Nacht des Flamingos
Arbeitskittel gekleidet, öffnete ihnen.
»Ja, Sir?« sagte sie zu Miller.
»Ist Mr. Craig zufällig zu Hause?«
»Colonel Craig«, erwiderte sie mit mildem Tadel in der Stimme, »ist zur Zeit in London, doch wir erwarten ihn heute abend zurück.«
»Wer ist es, Jenny?« rief eine Stimme von drinnen, und dann tauchte eine junge Frau in der Diele auf.
»Die Herren wollten den Colonel sprechen, aber ich habe ihnen gesagt, daß er nicht zu Hause ist«, erklärte das Mädchen.
»Es ist schon gut, Jenny. Lassen Sie mich mit den Herren sprechen.« Sie kam näher. In der Hand hielt sie ein aufgeschlagenes Buch. »Ich bin Harriet Craig. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«
Sie mochte etwa zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein. Mit ihrer Schwester hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit. Das schwarze, schulterlange Haar umrahmte ein Gesicht, das zu eckig war, um als hübsch gelten zu können. Der Mund war so groß und voll, daß er beinahe häßlich wirkte. Aber dann lächelte sie plötzlich, und die Wandlung war so vollkommen, daß man hätte meinen können, einem ganz anderen Menschen gegenüberzustehen.
Miller zeigte seinen Ausweis.
»Könnten wir Sie einen Moment sprechen, Miß Craig?«
Sie blickte auf die Karte nieder und runzelte verständnislos die Stirn.
»Ist etwas geschehen?«
»Vielleicht könnten wir hineingehen«, schlug Brady vorsichtig vor.
Das Wohnzimmer, in das sie sie führte, war mit exquisitem Geschmack eingerichtet. Ein großer Strauß weißer und violetter Hyazinthen, der in einem Zinnkrug auf dem Flügel stand, verlieh dem in ruhigen Farben gehaltenen Raum den Farbtupfer, den er brauchte. Sie drehte sich um, die eine Hand auf den Kaminsims gestützt.
»Nehmen Sie doch Platz, bitte.«
Miller schüttelte den Kopf.
»Aber vielleicht wäre es besser, wenn Sie sich setzten«, entgegnete er.
Einen Moment lang schien sie zu erstarren.
»Sie haben also schlechte Nachrichten für mich?« Und dann, ganz intuitiv: »Handelt es sich um meine Schwester? Handelt es sich um Joanna?«
Miller zog eines der Fotos aus seiner Innentasche.
»Ist das Ihre Schwester?«
Sie nahm mit einer fast automatischen Bewegung die Aufnahme. Ihre Augen weiteten sich entsetzt.
»Sie ist tot«, flüsterte sie. »Nicht wahr, sie ist tot?«
»Ja«, sagte Miller so behutsam wie möglich. »Sie wurde heute morgen bei Tagesanbruch aus dem Fluß geborgen. Unseres Wissens nach hat sie Selbstmord begangen.«
»Selbstmord? Oh, mein Gott!«
Und dann schien alle Kraft, aller Wille in ihr zu brechen. Sie taumelte wie unter einem Schlag, dann sank sie zu Boden.
Jack Palmer hob das Laken einen Moment hoch. Harriet Craig blickte auf das starre Gesicht ihrer Schwester nieder. Sie schwankte leicht. Miller faßte mit fester Hand ihren Ellbogen.
»Können wir zehn Minuten in Ihr Büro gehen, Jack?«
»Natürlich.«
Es war warm in dem winzigen Büro mit den Glaswänden. Miller führte sie zu dem einzigen Stuhl und lehnte sich an den Rand des Schreibtisches. Jack Brady blieb an der Tür stehen, Block und Bleistift gezückt.
»Ich werde Ihnen leider einige Fragen stellen müssen«, sagte Miller.
Sie nickte und umkrampfte ihre Handtasche so hart, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Natürlich«, flüsterte sie.
»War Ihnen bekannt, daß Ihre Schwester während der letzten drei Monate unter dem Namen Joanna Martin in einem Haus in der Grosvenor Road lebte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, davon hatten wir keine Ahnung. Und ich kann es auch gar nicht glauben. Wir dachten, sie wäre in London. Sie hat dreimal geschrieben. Alle drei Briefe waren in Chelsea abgestempelt.«
»Soviel ich gehört habe, hat es an der Kunstakademie Schwierigkeiten gegeben«, fuhr Miller fort. »Ihre Schwester wurde suspendiert. Können Sie mir darüber Näheres sagen?«
»Das ist ziemlich schwer zu erklären. Joanna war immer ein liebes kleines Ding. Sie war sehr begabt, aber ein bißchen naiv. Deshalb hielt es mein Vater für besser, sie an die hiesige Akademie zu schicken. Er wollte sie noch ein wenig zu Hause haben.«
Sie holte tief Atem. Als sie dann fortfuhr, lag viel mehr Festigkeit in ihrer Stimme.
»Und dann, vor vier Monaten ungefähr, schien sie praktisch über Nacht wie umgewandelt. Es war fast, als wäre ein anderer Mensch aus ihr geworden.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ihr ganzes Wesen änderte sich, ihr Verhalten. Sie wurde beim
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