Nacht des Flamingos
wissen wir wenigstens mit Sicherheit – wie sie mit Vornamen hieß.«
Miller, der die Hand erhoben hatte, um seine Zigarette anzustecken, hielt in der Bewegung inne.
»Lieber Himmel, ich glaube, ich werde alt.«
»Was soll das heißen?« fragte Brady.
»Mir fiel gerade etwas ein, was Martha Broadribb mir sagte. Die meisten Menschen, die verschwinden, erzählte sie mir, behalten ihren Vornamen bei – und dafür gibt es eine ganz einleuchtende psychologische Erklärung. Dieses Verhalten ist so üblich, daß man bei der Heilsarmee sogar eine Kartei nach den Vornamen eingerichtet hat.«
»Und wie soll uns das helfen?« erkundigte sich Brady verständnislos.
»Ich werde noch einmal bei der Kunstakademie nachfragen«, versetzte Miller kurz und ohne weitere Erklärung. »Vielleicht haben wir diesmal ein bißchen mehr Glück.«
»Das muß sie sein«, sagte Henderson plötzlich und trat von dem großen Aktenschrank weg zu Miller. Er reichte dem Sergeant eine weiße Karteikarte.
Er war ein kleiner Schotte mit ergrauendem Haar und einem sympathischen Gesicht, das von vielen Fältchen durchzogen war. Diese so ganz und gar nicht alltägliche Geschichte faszinierte ihn offensichtlich.
Miller las die Angaben auf der kleinen Karte laut vor, und Brady machte sich Notizen. »Joanna Maria Craig, wohnhaft Rosedene, Grange Avenue, Saint Martin's Wood.«
Brady pfiff lautlos durch die Zähne.
»Vornehme Gegend.«
»Offenbar hat sie das Studium vor ungefähr drei Monaten aufgegeben«, sagte Miller. »›Siehe Personalakte‹, steht hier.«
»Die suche ich gerade«, erklärte Henderson. Er hatte die Schublade eines anderen Aktenschranks herausgezogen und ging rasch die grünen Hefter durch, die darin verstaut waren. Dann nickte er, zog einen Hefter heraus und schlug ihn auf.
Nach einer Weile blickte er auf und nickte erneut.
»Ich erinnere mich jetzt. Vor allem wegen ihres Vaters.«
»Ihres Vaters?«
»Ja. Ein ungemein sympathischer Mensch. Er hat mir damals wirklich leid getan. Er ist Generaldirektor dieses neuen Unternehmens draußen in der York Road. Gulf Electronics heißt die Firma, glaube ich.«
»Und warum tat er Ihnen leid?«
»Wenn ich mich recht erinnere, machte ihm seine Tochter das Leben damals recht sauer. Als sie hier anfing, war alles in bester Ordnung. Vor vier Monaten war sie plötzlich wie verwandelt. Sie fing an, ihre Vorlesungen zu schwänzen, lieferte ihre Hausarbeiten nicht mehr rechtzeitig ab und dergleichen mehr. Wir riefen ihren Vater an, um die Sache mit ihm zu besprechen.« Er runzelte plötzlich die Stirn. »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Er brachte seine zweite Tochter mit. Ein sympathisches Mädchen. Ich glaube, sie ist Lehrerin. Im Lauf der Unterhaltung stellte sich heraus, daß er Witwer ist.«
»Und was geschah?«
»Er versprach uns, daß er sein Bestes tun würde, um dem Mädchen Vernunft beizubringen, aber ich fürchte, seine Bemühungen waren erfolglos. Ungefähr eine Woche später kam es zu einem sehr häßlichen Zwischenfall mit einer unserer Dozentinnen. Es fielen harte Worte, und dann schlug das Mädchen ihr ins Gesicht. Daraufhin mußte sie natürlich suspendiert werden.«
Miller saß einen Moment lang schweigend da und ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen. Dann stand er auf. Er streckte seine Hand aus.
»Sie haben uns sehr geholfen, Mr. Henderson.«
»Keine Ursache. Geben Sie mir ruhig Bescheid, wenn ich sonst irgendwie behilflich sein kann.«
Draußen spiegelte sich die bleiche Nachmittagssonne in den lebhaften Farben des Mosaiks, das die Mauer des neuen Einkaufszentrums auf der anderen Straßenseite verschönern sollte.
Am Fuß der Treppe blieb Miller stehen und steckte sich eine Zigarette an.
Jack Brady blickte ihn an. Miller seufzte.
»Und jetzt kommt der unerfreuliche Teil.«
St. Martin's Wood war am Stadtrand gelegen. Es war eine vornehme Villengegend, nicht weit entfernt von Millers eigenem Haus. Die Villen ähnelten einander im Stil – weiträumige Landhäuser aus grauem Stein, um die Jahrhundertwende erbaut, halb versteckt unter alten Bäumen. Das Haus, das sie suchten, stand am Ende einer stillen Sackgasse hinter einer hohen Steinmauer.
Miller lenkte den Cooper durch das geöffnete Tor und fuhr bis zum Fuß einer breiten Treppe, die zur Haustür hinaufführte.
Sie brauchten nicht lange zu warten, nachdem sie geklingelt hatten. Eine junge Frau mit hübschem Gesicht, in einen weißen
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