Nacht des Flamingos
Sie wollte Ihnen nicht noch mehr Schande machen. So jedenfalls lege ich ihre Versuche aus, ihre Identität zu verbergen. Sie wollte vom Erdboden verschwinden, als hätte sie nie existiert.«
Als Craig antwortete, lag nur ein schwaches Beben in seiner Stimme.
»Ich danke Ihnen, Sergeant. Ich dachte mir schon, daß es so etwas sein müßte.«
6
Als Brady die Tür zu dem Saal öffnete, in dem unter dem Vorsitz des Coroners die amtliche Untersuchung stattfand, stellte er fest, daß das Verfahren schon begonnen hatte. Obwohl kaum ein halbes Dutzend öffentliche Zuschauer zugegen war, wirkte der Saal gepackt voll. Die eine Seite des Raumes wurde von der Geschworenenbank eingenommen, und darüber thronte in stolzer Erhabenheit der Coroner hinter seinem Pult.
Miller war soeben zum Ende seiner Aussage gekommen. Er stand auf und verließ den Zeugenstand. Er bemerkte sogleich das neugierige Gesicht Bradys. Rasch ging er zu ihm hinüber und zog ihn mit hinaus auf den Flur.
»Tut mir leid, daß ich zu spät komme«, sagte Brady. »Ich mußte zu einer anderen Verhandlung. Wie geht's denn?«
»Ich habe meinen Teil hinter mir. Craig und seine Tochter sitzen vorn, und Vernon hat Henry Baxter mitgebracht.«
»Den alten Geldschneider?« Brady pfiff durch die Zähne. »Der wird ihm ein nettes Sümmchen abknöpfen.«
»Was von Grant gehört?«
Brady nickte. »Leider nichts Gutes. Er hat gerade von der Staatsanwaltschaft Nachricht bekommen. Man hat sich die Sache dort genau angesehen und ist zu dem Schluß gekommen, daß sich gegen Vernon zumindest im gegenwärtigen Stadium überhaupt nichts unternehmen lassen wird.«
»Na, da kann man nichts machen. Es war jedenfalls einen Versuch wert. Warten wir erst mal ab, was die Untersuchung bringt. Bei diesen amtlichen Untersuchungen ist schon alles mögliche passiert.«
Sie kehrten wieder in den Saal zurück. Als sie sich setzten, trat gerade Monica Grey in den Zeugenstand und legte den Eid ab.
»Ihr Name ist Monica Alice Grey und Sie wohnen in der Argyle Road Nummer fünfzehn.«
»Ja.«
»Wann lernten Sie die Tote kennen?«
»Vor ungefähr zwei Jahren. Wir studierten zusammen an der Kunstakademie.«
»Wir haben von Sergeant Miller gehört, daß sie in dasselbe Haus zog, in dem Sie zur Untermiete wohnten, und daß sie sich dort unter dem Namen Joanna Martin einmietete. Können Sie uns sagen, warum sie das getan hat?«
»Sie verstand sich mit ihren Angehörigen zu Hause nicht mehr. Deshalb beschloß sie auszuziehen, aber sie wollte nicht, daß ihr Vater erfuhr, wo sie lebte.«
Miller lehnte sich vor. Voller Spannung folgte er der Vernehmung. Er selbst war gezwungen gewesen, sich streng an die Tatsachen zu halten. Das, was Monica Grey jetzt aussagen würde, war von entscheidender Bedeutung.
»Sie waren mit der Toten eng befreundet?«
»Wir waren gute Freundinnen – ja.«
»Sie hatte Vertrauen zu Ihnen – besprach ihre Sorgen mit Ihnen. War Ihnen beispielsweise bekannt, daß die Tote rauschgiftsüchtig war?«
»Ja, das wußte ich, aber ich entdeckte es nur durch einen Zufall. Ich ging eines Tages ohne anzuklopfen in ihr Zimmer, und da gab sie sich gerade eine Injektion.«
Der Coroner warf ihr über den Rand seiner Brille hinweg einen scharfen Blick zu.
»Was für eine Injektion?«
»Heroin.«
»Hat sie Ihnen jemals erzählt, wie es dazu kam, daß sie rauschgiftsüchtig wurde?«
»Ja, sie sagte, auf irgendeiner Party hätte sie mal zuviel getrunken und wäre ohnmächtig geworden. Und während sie bewußtlos war, hätte ihr jemand eine Spritze gegeben.«
»Warum würde wohl jemand so etwas tun?«
»Keine Ahnung. Aus Spaß vielleicht.«
»Aus Spaß.« Der Coroner studierte unbewegten Gesichts die Papiere, die vor ihm auf dem Pult lagen. »Hat sie Ihnen gegenüber jemals angedeutet, daß die fragliche Party in einem Spielklub mit dem Namen ›Flamingo‹ stattgefunden hatte, der Mr. Maxwell Vernon gehört?«
»O nein.«
Der Coroner blickte sie einen Moment lang forschend an. Dann nickte er.
»War Ihnen bekannt, daß sie ein Kind erwartete?«
»Ja, sie erzählte es mir vor ungefähr zwei Wochen.«
»Bei welcher Gelegenheit?«
»Sie mußte jemandem ihr Herz ausschütten. Sie war ganz verzweifelt. Sie fragte mich, ob ich jemanden wüßte, der ihr helfen könnte.«
»Eine Abtreibung?«
»Ja.«
Der Coroner machte sich eine Notiz.
»Noch eine letzte Frage, Miß Grey. Welchen
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