Nacht des Flamingos
eine Minute Zeit. Wenn Sie dann noch nicht verschwunden sind, werde ich meinen Anwalt anrufen. Sie wissen wohl, was das zu bedeuten hat.«
»O ja«, erwiderte Miller. »Es bedeutet, daß Sie Blut schwitzen.« Er lächelte kalt. »Wir sehen uns vor Gericht wieder, Mr. Vernon.«
Er drehte sich um und nickte Brady zu. Der Wachtmeister öffnete die Tür. Gemeinsam gingen sie hinaus.
Eine Weile saß Vernon reglos da und starrte ins Leere. Dann hob er den Telefonhörer ab und drückte auf einen Knopf.
»Ben, sind Sie das«, sagte er. »Schicken Sie Stratton sofort zu mir herauf. Ich habe einen kleinen Auftrag für ihn.«
Monica Grey kam müde und lustlos aus dem Badezimmer. Sie hatte gehofft, daß sie sich nach einem heißen Bad wohler fühlen würde. Statt dessen empfand sie nichts als tiefe Niedergeschlagenheit und Kraftlosigkeit. Wie sie den langen Abend im ›Flamingo‹ hinter sich bringen sollte, war ihr ein Rätsel.
Das erste Klopfen war so schwach, daß sie meinte, sie hätte sich getäuscht. Sie zögerte einen Moment, schlang dann den Gürtel ihres Bademantels zu und lauschte.
Es klopfte wieder.
Sie öffnete die Tür. Sie hatte den verschwommenen Eindruck einer schattenhaften Gestalt im düsteren Korridor, sah einen Arm in die Höhe fahren, und dann spritzte Flüssigkeit in ihr Gesicht. Sie taumelte nach rückwärts, öffnete den Mund, um zu schreien und schlug die Hände vor die Augen, die zu brennen begannen. Sie hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Dann packte eine grobe Hand ihre Schulter und riß sie herum, so daß sie aufs Bett fiel.
Irgend jemand lachte höhnisch und eiskalt. Finger gruben sich in ihr Haar und rissen ihren Kopf zurück.
»Komm, Schatz, mach die Augen auf. Es ist ja nur Onkel Billy.«
Sie schlug die Augen auf. Der Schmerz hatte nachgelassen. Sie starrte in Bill Strattons bleiches, blutloses Gesicht. Nur seine Lippen hatten Farbe. Er grinste.
»Wasser, mein Schatz, mit einem Schuß Desinfektionsmittel gemischt. Das brennt in den Augen, was? Stell dir mal vor, wenn das etwas Schärferes gewesen wäre – Vitriol zum Beispiel.« Er lachte grausam. »Da wärst du jetzt schon blind.«
Sie war wie gelähmt vor Entsetzen und Angst. Aus aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, während er ihr die Wange tätschelte.
»Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, mein Kind. Und du hast ein bißchen zuviel geredet. Mr. Vernon sieht so was gar nicht gern. Nein, gar nicht gern. So, und jetzt zieh dich an. Ich nehme dich mit.«
Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu, als Miller den Cooper durch das geöffnete Tor in der Grange Avenue steuerte und vor dem Haus anhielt. Es war ein langer Tag gewesen. Er war so müde, daß er einen Augenblick hinter dem Lenkrad sitzen blieb, ehe er ausstieg.
Auf sein Läuten wurde ihm die Tür von Jenny, dem jungen Dienstmädchen, geöffnet. Ihre Augen waren rot und verschwollen. Sie hatte offensichtlich geweint.
»Sergeant Miller«, sagte sie. »Bitte, kommen Sie herein.«
»Als ich ins Büro zurückkam, fand ich eine Nachricht vor«, erklärte Miller. »Offenbar war Colonel Craig im Leichenschauhaus, um seine Tochter zu identifizieren, und würde mich gern sprechen.«
»Der Colonel und Miß Harriet sind im Garten«, sagte Jenny. »Ich werde sie rufen.«
»Nein, nein, ist schon gut«, widersprach Miller. »Ich werde die beiden schon finden.«
Es war kühl im Garten. In den kahlen Ästen der Bäume
krächzten unmelodisch die Krähen, während er über den bräunlichen Rasen schritt, der schon feucht war vom abendlichen Tau. Von irgendwoher kam leises Stimmengemurmel, begleitet vom Plätschern eines Baches. Und dann schallte eine vertraute Stimme durch die Stille des Abends.
»Hier sind wir, Sergeant Miller!«
Harriet Craig lehnte am Geländer eines schmalen Stegs, der über einen Bach führte. Der Mann, der neben ihr stand, war knapp eins achtzig groß und hatte eisgraues Haar, das sehr kurz geschnitten war.
Die Augen über den hochliegenden Backenknochen blickten ruhig und kühl. Einen Moment lang sahen sie Miller forschend an. Dann streckte der Mann die Hand aus.
»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie so rasch gekommen sind.«
Eine Ausstrahlung ungewöhnlicher Vitalität ging von ihm aus, ein Eindruck gezügelter Kraft, der Miller beinahe so etwas wie Unbehagen einflößte. Der Mann mußte mindestens achtundvierzig Jahre alt sein, und doch gab er sich mit dem Selbstvertrauen und der
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