Nacht des Ketzers
hindurchzusehen.
„Wären wir nur auch früher …“ Der Bauer stockte kurz und erzählte dann weiter.
„Wir sahen sie schon von weitem. Reiter. Sechs oder sieben. Sie kamen aus Richtung Paris. Wir packten unsere Sachen und liefen so schnell wie möglich zu unserem Haus. Auf dem Hügel davor angekommen, sahen wir, wie ein Mann vor die Tür trat, unser Neugeborenes bei den Füßen hielt und es dann mit voller Wucht mit dem Kopf gegen die Hauswand schlug.“
Wieder herrschte für kurze Zeit unerträgliche Stille im Raum.
„Meine Frau schrie, und mehrere Männer kamen nun aus unserem Haus. Von ihren Messern troff das Blut. Wir liefen, so schnell wir konnten, in einen nahen Wald. Erst jetzt bemerkten wir, dass unser Ältester, anstatt uns zu folgen, in Richtung Haus gelaufen war. Ich lief zurück und sah, wie ihn einer der Reiter im Galopp auf sein Pferd hob, ihm mit einem Messer die Kehle durchschnitt und ihn dann wie einen Sack wieder auf den Boden warf.“
Giordano bedauerte, so forsch gewesen zu sein. Die beiden schienen die Gedanken an das schreckliche Ereignis verdrängt gehabt zu haben, und er hatte sie wieder ausgegraben, hatte die Fröhlichkeit aus ihren Gesichtern vertrieben.
„Wir haben uns zwei Tage und zwei Nächte in den Wäldern versteckt. Mehrere Male wären wir fast entdeckt worden. Erst dann haben wir uns wieder in unser Haus zurückgetraut.“
Guiseppe wollte etwas sagen, schluckte die Worte aber wieder hinunter.
„Meine Frau wollte, dass wir wegziehen, doch ich habe sie davon überzeugt zu bleiben. Wo sollten wir denn auch hin? Erst viel später haben wir erfahren, dass in dieser Nacht allein in Paris und Umgebung mehrere tausend Menschen hingemetzelt wurden. Katholiken und Protestanten.“
„Und weil es in eurer Gegend mehr Katholiken als Protestanten gibt, habt ihr euch entschlossen, allen Fremden vorzutäuschen, ihr wärt Katholiken?“
Der Bauer sah wieder zu Boden. Er wusste, dass er diese Frage nicht zu beantworten brauchte. Stumm verließ die Bäuerin den Raum. Sie wollte weinen, doch die Tränen waren vor langer Zeit versiegt.
Am nächsten Morgen verließen die beiden Gefährten früh das Bauernhaus. Stumm ritten sie nebeneinander auf der Straße Richtung Paris. Beide hatten prallgefüllte Säcke vor sich am Sattelknauf befestigt: Speck, Würste, Käse und Brot und für Giordano extra ein kleines Tongefäß mit eingelegtem Kraut. Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wiederfanden, doch sie unterhielten sich über Banalitäten und nicht über das, was sie am Vorabend gehört hatten. An einem kleinen Seitenarm der Seine machten sie halt, ließen die Pferde trinken und ruhten sich am Ufer des Flusses aus. Der Frühling war ihnen mit Riesenschritten entgegengekommen. Ein paar Mücken tanzten um sie herum, und erste Blumen kämpften sich durch die stellenweise noch braunen Wiesen. Die Luft war milder als an den Tagen zuvor, und die Sonne schien täglich an Kraft zu gewinnen. Das grünbraune Wasser des Flusses waberte träge an ihnen vorüber. Kleine Wellen warfen hin und wieder sich kräuselnden Schaum auf. Eine Schar Wildgänse setzte lärmend zur Landung an, bremste den Flug auf der Wasseroberfläche ab, indem sie die Füße mit den roten Schwimmhäuten hochstellte, und kam wenig später gänzlich zur Ruhe. Die Gänse ließen sich eine Weile treiben, um danach ebenso lärmend, auf dem Wasser laufend und dabei heftig mit den Flügeln schlagend wieder abzuheben. Guiseppe warf gelangweilt Steine in den Fluss und beobachtete dabei die Kreise, die ihr Eindringen in die feuchte Materie hervorrief. Ein paar Fische verirrten sich in Ufernähe, und Guiseppe sah rasch zu seinem Freund, doch der schien dieses Mal keine Lust zu verspüren, in das kalte Nass zu springen, um sie zu fangen.
Nach einem etwa eineinhalbstündigen Ritt sahen sie von einem Hügel herab die Stadt vor sich liegen. Paris. Giordano machte halt und sprang vom Pferd. Der Rappe wieherte, und sein Reiter tätschelte ihm beruhigend den Hals. Der Louvre und die Kirche Notre Dame waren in der sich im Fluss spiegelnden Abendsonne klar und deutlich zu erkennen. Ein paar Boote trieben träge dahin. Das Leben in der etwa dreihunderttausend Einwohner zählenden Stadt war von hier oben nur zu erahnen. Giordano atmete tief durch. Sollte diese Stadt endlich den ersehnten Frieden, die Möglichkeit ungestörter Forschung und eines sorgenfreien Lebens bieten? Ein Zentrum der Welt ähnlich wie Rom lag vor ihnen. Kultur und
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