Nacht des Schicksals
werden Sie ihr die Wahrheit sagen müssen. In der Zwischenzeit ist Ihr Geheimnis bei mir gut aufgehoben. Sollten Sie jemals darüber reden wollen … Sie wissen ja, wo meine Praxis ist. Noch immer am selben Fleck, an dem Sie mich am Heiligabend vor acht Jahren aufgesucht haben.”
Nachdem der Arzt gegangen war, ging Kendra ins Wohnzimmer und schloss die Fenster. Ein starker Wind war aufgekommen und peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben, sodass sie zitterten. Wie sie selbst.
Bilder der Vergangenheit stiegen in ihr auf, und die Erinnerung drohte ihr die Kehle zuzuschnüren. Sie wusste genau, welchen Besuch Doktor Jamieson gemeint hatte. An dem Tag waren ihre Mädchenträume zerstoben, und ihr Leben hatte sich für immer verändert.
Sie war über Weihnachten nach Rosemount gekommen und hatte die Gelegenheit zu einem Arztbesuch genutzt. Ihre Regel war seit einiger Zeit ausgeblieben. Anfangs hatte sie es auf den Unfall zurückgeführt und später auf den Stress in ihrem ersten Collegejahr. Doch in den letzten Wochen hatte sie sich ein wenig unwohl gefühlt, sodass sie einen Termin bei Doktor Jamieson vereinbart hatte. Der einzige noch freie Termin war am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezember.
Als sie seine Praxis wieder verließ, war sie wie gelähmt. Auf den Schock folgten Angst und Verzweiflung. Sie würde es ihrem Großvater sagen müssen. Es hatte keinen Zweck, es lange hinauszuschieben. Früher oder später würde er es doch erfahren. Benommen ging sie nach Hause und nahm rings um sich her nichts wahr.
Als sie ihrem Großvater gestand, dass sie schwanger sei, war er außer sich. Sie sei eine Schande für die Familie, tobte er und wollte wissen, wer der Vater des Babys war. Sie erklärte unter Tränen, dass sie es nicht wisse, und versuchte, es ihm zu erklären, aber er hörte nicht zu. Mit wutverzerrtem Gesicht schrie er sie an, dass sie nicht länger in seinem Haus willkommen sei.
Sie hatte ihn beim Wort genommen.
Das alles wäre nicht geschehen, hätte sie sich nicht im September desselben Jahres von Ashleigh überreden lassen, übers Wochenende nach Seattle zu kommen. Die Black Bats, ihre Lieblingsrockgruppe, traten im Merivale Park auf. Ihre neunzehnjährige Cousine hatte eine kleine Wohnung in der Stadt, und als sie anrief und sagte, dass sie zwei Tickets für das Konzert am Samstag habe, war Kendra sofort begeistert.
Ashleigh war keine richtige Cousine. Sie stammte aus einem entfernten Seitenzweig der Familie Westmore. Seit Ashleighs Eltern mit einer unschönen Scheidung Aufsehen erregt hatten, war Kendras Großvater nicht mehr gut auf sie zu sprechen. Ashleigh war dreizehn gewesen und sie, Kendra, elf. Ohne das Wissen ihres Großvaters waren sie heimlich in Kontakt geblieben, so ungleich sie auch waren. Ashleigh hatte mit sechzehn die Schule verlassen und in Seattle einen Job in einem Kosmetiksalon angenommen. Sie, Kendra, hatte die Highschool mit Auszeichnung absolviert, und als Ashleighs Einladung kam, hatte sie gerade den ersten Monat auf dem College hinter sich.
Das Konzert sollte am Samstagnachmittag beginnen. Kendra war am Abend zuvor mit dem Bus von Vancouver nach Seattle gefahren, und gegen Mittag fuhren sie in Ashleighs rotem Wagen zum Merivale Park. Es war ein heißer, sonniger Tag. Ein Parkwächter dirigierte Ashleigh auf einen Parkplatz unter einem großen Weidenbaum.
Als sie ausstiegen, sagte Ashleigh: “Sollten wir getrennt werden, treffen wir uns sofort nach dem Konzert wieder hier. Dann kommen wir nicht ins Gedränge, wenn alle anderen abfahren wollen. Präg dir genau ein, wo wir sind, Kenny, damit du notfalls allein wieder herfindest.”
Kendra sah sich um. Sie merkte sich den Standort des großen Baums im Verhältnis zur riesigen Bühne am anderen Ende der freien Fläche. Noch heute konnte sie sich erinnern, wie sie vor sich hingemurmelt hatte: “Es ist nah bei Ausgang vier unter der großen Weide, genau gegenüber von der Bühne.” Sie hatte es sich gut eingeprägt. Es war das Letzte gewesen, woran sie sich später hatte erinnern können.
Am nächsten Morgen war sie mit einer verletzten Hüfte und einer Gehirnerschütterung in einem Krankenhaus in Seattle aufgewacht. Ashleigh hatte mit aschfahlem Gesicht neben ihrem Bett gesessen.
“Kenny!” Ashleigh griff nach Kendras Hand, als sie sah, dass sie die Augen aufschlug. “Zum Glück bist du wach. Wie geht es dir?”
“Ashleigh?” Kendra war benommen und ihre Stimme heiser. “Was … was ist
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