Nacht des Schicksals
in der zwölften Klasse, furchtbar viel Hausaufgaben auf. Sie will auf jeden Fall einen guten Abschluss machen, damit sie auf ein gutes College kann.”
“Du magst Hayley gern, stimmt’s?”
“Ja, sie ist sehr nett zu mir. Jodi hat Glück, dass sie eine große Schwester hat. Und einen Bruder. Und einen Hund natürlich.”
“Ich durfte nie einen Hund haben, als ich klein war. Mein Großvater war allergisch gegen Hundehaare.” Kendra bog auf den Parkplatz des Motels ein. “Vielleicht sollten wir über einen Hund nachdenken, wenn wir uns richtig im Haus eingerichtet haben.”
“Oh, ich mag Fetch, und er gehorcht mir auch schon gut.” Megan öffnete ihren Gurt, dann musste sie mehrmals niesen, und als sie wieder zu Atem gekommen war, fuhr sie fort: “Wir brauchen eigentlich gar keinen Hund für mich. Ich werde viel bei Jodi sein, und sie hat gesagt, Fetch kann auch mein Hund sein.”
Unbehagen beschlich Kendra. Megan schien sich bei den Spencers häuslich niederzulassen. Sie kannte Jodi erst seit sechs Tagen, und doch waren die beiden sich schon so nah, als wären sie seit Jahren beste Freundinnen. Kendra seufzte. Wie sollte sie sich von Brodie fernhalten, wenn ihre Töchter so schnell unzertrennlich wurden?
Am Sonntag regnete es, und Megans Erkältung wurde schlimmer. Auch am Montagmorgen war keine Besserung in Sicht. Kendra rief in der Schule an, um ihre Tochter für den Tag abzumelden. Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, da klingelte das Telefon. Es war Hayley, und sie klang ziemlich verzweifelt.
“Hayley? Was ist denn los?”
“Dies ist eine schreckliche Zumutung, aber … ich wollte fragen, ob du mir einen riesigen Gefallen tun kannst.”
“Ja … natürlich, wenn es mir möglich ist.”
“Es geht um Jodi. Sie hat noch immer diese Erkältung und Kopfschmerzen und Halsschmerzen … Jedenfalls kann sie unmöglich in die Schule gehen. Aber ich muss heute dort sein, weil ich ein Referat halten soll.” Hayley holte tief Luft, und nun war die Verzweiflung in ihrer Stimme unüberhörbar. “Unser üblicher Babysitter ist nicht erreichbar. Könntest du vielleicht herkommen?”
Zwanzig Minuten später half Kendra einer benommenen Megan in das zweite Bett in Jodis Zimmer. Jodi schlief tief und fest.
“Ich muss mich beeilen”, entschuldigte sich Hayley. “Wirst du zurechtkommen? Du weißt ja, wo die Küche ist und das Wohnzimmer …”
“Ich werde mich schon zurechtfinden.” Kendra schob Hayley in Richtung Ausgang. “Wo ist Jack?”
“Er ist schon um acht los.” Hayley griff nach ihrem Regenmantel. “Er hat eine Übungsstunde mit der Band. Wir werden beide gegen halb fünf zu Hause sein. Wenn es sein muss, kannst du mich in der Schule erreichen. Ruf einfach im Büro an. Man wird mich dann schon finden.”
Gleich darauf war Kendra allein mit zwei kranken Kindern in Brodie Spencers Haus.
Brodie duschte am Ende seines ersten Tages auf der Messe. Dann zog er sich an und schaltete den Fernseher für die Abendnachrichten ein. Als die Sendung beendet war, trat er ans Fenster. Gedankenverloren blickte er auf die Straße hinunter. Winzige Figuren schienen sich dort unten auf dem Bürgersteig zu bewegen, während sich Spielzeugautos Stoßstange an Stoßstange auf der sechsspurigen Straße voranschoben. Eine Stadt voller Fremder!
Seit wann hatte er keine Freude mehr an seinen Ausflügen? Er wusste noch gut, wie viel Spaß sie ihm einst gemacht hatten! Vor allem am Anfang, als er noch gegen das Schicksal aufzubegehren versucht hatte, das ihm nicht nur die halbe Familie geraubt, sondern ihn auch noch dazu verdammt hatte, sich als ehrbarer Bürger niederzulassen.
Er presste die warmen Hände an das kalte Fensterglas und ließ die Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Unwillkürlich musste er an Laurie denken. Sie war Einkäuferin für eine Firma in Toronto gewesen, und er war ihr bei seinem ersten Messebesuch begegnet. Sie war sieben Jahre älter als er gewesen, doch es hatte auf den ersten Blick zwischen ihnen gefunkt. Schon wenige Stunden nach ihrer ersten Begegnung waren sie im Bett gelandet und hatten ihre sporadischen Treffen in den folgenden Jahren in vollen Zügen genossen.
Vor fünfzehn Monaten war es zu Ende gegangen. Laurie war nach Halifax versetzt worden. In ihrem neuen Job konnte sie nicht mehr so viel reisen, und so hatten sie gemeinsam beschlossen, ihre Affäre zu beenden. Einige Male hatte er seither an sie gedacht. Ihre Beziehung war nur auf Sex gegründet gewesen. Als Mensch
Weitere Kostenlose Bücher