Nacht des Verfuehrers - Roman
durchdrang die doppelten Strümpfe und lief ihr in die Schuhe, bis sie die Füße nicht mehr fühlte. Nicht zum ersten Mal ging ihr auf, dass die Kleider des schwachen Geschlechts nicht dazu gemacht waren, die Schwäche zu kompensieren, sondern sie verstärkten sie vielmehr weiter, und deshalb beneidete sie Dumitru um seine Hosen und um seinen Mantel.
Aber bald war sie dermaßen erschöpft und durchgefroren, dass sie ein so eindeutiges Gefühl wie Neid nicht mehr zu Stande brachte. Die Kopfschmerzen von gestern waren noch schlimmer geworden, es pochte bei jedem Schritt, und die kratzende Kehle schmerzte beim Schlucken. Je später es wurde, desto übler erging es ihr. Irgendwann wusste sie nur noch, dass ihr Kopf hämmerte, aber es fühlte sich an, als gehöre er jemand anderem. Zahlen und Symbole tanzten vor ihren Augen, bewegten sich in Mustern, die eine tiefere Bedeutung haben mussten, nur wusste sie nicht, welche. Das letzte Stadium der Erschöpfung ließ ihre Sinne in einer konfusen Mixtur aus Halluzination
und Realität versinken. Die schmale eisige Straße zog sich so bedeutungslos wie menschenleer vor ihr dahin, und sie fühlte sich, als wandere sie durch einen Nebel, indem ihr die Gedanken wie glitschige Fische entwischten und sich mit Trugbildern mischten, die am Rand ihres Blickfelds zupften, so körperlos wie Dumitru, der neben ihr ging.
Der Takt ihrer Schritte erfüllte das Universum, vertrieb die Gefühle und die Wahrnehmung, bis es nichts mehr gab, das real war, nur noch das Schwingen ihres Beines, das entfernte Gewicht des Bodens unter ihren Füßen und dann der nächste Impetus, der das andere Bein nach vorne schwang …
Alles schwankte plötzlich, und ein Druck an ihrem Ellenbogen machte sie blinzeln. Dumitru . Er war vor ihr, das einzig Solide im wirbelnden, verzehrenden Nebel.
Er sagte etwas. Die Worte ergaben jedoch keinen Sinn. Sie trieben einfach fort, aber etwas in seiner Stimme brachte sie dazu, nach den Phrasen zu fassen, um sie aus dem Nebel zu zerren und mühsam in die richtige Reihenfolge zu bringen.
»Mein Gott, Alcy, du wärst fast gestürzt! Du hast nicht einmal mehr versucht, dich abzufangen!«
»Es geht mir gut«, wollte sie äußern und offensichtlich auch mit Erfolg, denn einen Augenblick später drangen ein paar andere, scheinbar wohlgeordnete Worte zu ihr durch.
»Nein, das stimmt nicht.« Er war jetzt leichter zu verstehen. Er streckte die Hand nach ihr aus, und einen Augenblick später spürte sie, wie er ihre Wange berührte, doch beides schien seltsam voneinander getrennt abzulaufen. Seine Hand fühlte sich kalt an.
»Du glühst«, sagte er. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. »Komm, ich habe Zunder dabei, ich mache uns ein Feuer.«
Er zog sie an sich, und sie trieb neben ihm dahin. Dann packte er sie an den Schultern, und sie setzte sich. Das war das Letzte, woran sie sich erinnerte, bevor sie jemand an den Schultern rüttelte.
Dumitru. Das hatte sie gerade schon einmal gedacht, oder nicht? Vor einer Sekunde … Sie schlug die Augen auf, und sein Gesicht verschwamm vor ihr in orangerotem Licht, einem heißen Licht, das sie auch im Gesicht spüren konnte.
»Ein Feuer«, sagte sie mit erfrorenem Verstand und einer eisigen Angst, die an der Wärme zehrte.
»Ja«, sagte er. Sein Gesicht wirkte angespannt, tiefe Linien zerfurchten die jungen Wangen. Der Schatten der frischen Bartstoppeln ließ ihn so mitgenommen aussehen, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Weißes Haar, zerfurchtes Gesicht, zu alt, zu alt für ihren jungen Ehemann …
Das Feuer. Ihr Verstand kehrte zum Feuer zurück. Es war wichtig. Sie durften kein Feuer haben. Männer würden kommen, sie würden mit Sicherheit kommen, und schreckliche Dinge würden passieren … »Mach es aus«, sagte sie. War das ihre Stimme? Sie krächzte und röchelte: »Zu gefährlich.« Ihr tat der Hals weh.
»Nein«, sagte Dumitru. »Du brauchst es.«
Sie machte die Augen zu, weil sie das Licht so schmerzte, und sie spürte eine warme Decke – nein, sie hatten keine Decken. Ein Mantel. Es war Dumitrus Mantel. Sie wollte protestieren, doch ihr Kopf dröhnte mit einer Wucht, die ihr das Sprechen unmöglich machte. Sie spürte seine Hände
an ihren Füßen. Sie zogen an den Schuhen, und dann waren auch die Strümpfe weg. Die Wärme seiner Hände war wie ein wundersamer Schmerz, aber entfernt, als gehöre er jemand anderem. Er machte ein zischendes Geräusch. Sie schlug die Augen auf und sah, wie er mit verzerrtem
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