Nacht des Verfuehrers - Roman
vertraut. Selbst nach der Verfolgungsjagd, dem Bad im Fluss und zwei langen Tagen im Sattel roch er für sie immer noch wie er selbst: warm, maskulin und sicher. Einen wahnsinnigen Moment lang wollte sie nur noch das
Gesicht an seiner Brust vergraben und sich die Welt hinweg wünschen.
Aber zu viel hatte sich verändert, seit sie sich das letzte Mal so an ihn gelehnt hatte.
»Danke«, flüsterte sie nur. Sie wollte sich von ihm lösen, wagte es aber nicht, weil ihre Beine gefährlich wankten. »Du bist nicht mehr gefesselt, seit die Hajduken fort sind. Warum hast du nicht versucht zu fliehen?«
Falls sie noble Worte erwartet haben sollte, wurden ihre Hoffnungen schnell zerstört. »Hast du mein Pferd gesehen?«, fragte er. »Auf dem komme ich nicht weit.«
»Ich verstehe«, sagte sie und kompensierte die Enttäuschung mit Pragmatismus. Natürlich. So musste es zwischen ihnen sein nach allem, was er ihr angetan hatte – und sie ihm. Und das war auch gut so, denn jetzt, da sie die Wahrheit kannte, konnte es nie mehr so sein wie früher.
Bis sie die Tür des Gasthofs erreichten, taten ihre Beine wieder den Dienst, aber sie hatte nicht die Kraft, sich von ihm zu lösen. Drinnen sah es wie in jeder Kutschstation östlich von Frankreich aus, und sicher gab es in irgendeiner Ecke auch den unvermeidlichen privaten Salon. Zwei von den Häschern standen ungeduldig unter der Tür, die anderen folgten ihr und Dumitru dichtauf für den Fall – ja, welchen? Dass er sich am nächstbesten Kamin einen Schürhaken schnappte und um sich zu schlagen begann? Aber Dumitru ließ weder ihren Arm los, noch machte er den Versuch, sich über die Tische zum Kamin zu stürzen, sondern marschierte mit ihr zum Salon, wobei Alcy für jeden seiner Schritte drei unsichere Hüpfer tun musste.
Sie erstarrte förmlich, als sie eintraten. Der Raum erschien ihr nach der rauen Wildnis, aus der sie kamen, wie
aus einer anderen Welt. Die grünen Tapeten, der rot-grüne Teppich – tatsächlich ein Teppich aus sorgfältig zusammengenähten Bahnen, die passgenau auf das Zimmer zugeschnitten waren -, die rot gepolsterten Mahagonimöbel, die lächerlich kleinen Tische mit den Fransendeckchen, auf denen sich Schäferinnen aus Porzellan tummelten: Es war die Kopie eines englischen Salons und so vertraut, dass Alcy vor Heimweh am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Sie ließ Dumitru los, sank auf den nächsten Stuhl und sah sich mit hungrigem Blick um. Einer der Männer sagte kurz etwas zu Dumitru, der auch etwas antwortete, doch obwohl es Deutsch war, gelang es ihrem Verstand nicht mehr, die Worte zu verstehen. Dumitru ließ sich auf einen Stuhl plumpsen, und das Licht einer Lampe fiel in sein Gesicht. Alcy sah zum ersten Mal die verhärmten Schatten unter seinen Augen und die rauen Bartstoppeln an seinem Kinn, die im Gegensatz zu seinem silbernen Haar pechschwarz waren und ihn irgendwie gefährlich aussehen ließen – jedoch nicht weniger gut. Der Raum schien sich nicht ruhig halten zu wollen … Die Revolutionäre sagten, bevor sie gingen, noch etwas zu Dumitru, dann schlossen sie die Tür, und der Riegel rastete mit einem Klicken ein.
Alcy kam stolpernd auf die Füße und hechtete, aus ihrer Betäubung gerissen, zur Tür. »Halt!«, schrie sie. Oder versuchte es zumindest, denn beim ersten Schritt war ihr, als triebe sie fort und stürze gleichzeitig. Dunkelheit brach herein und verschlang sie mit einem einzigen Schluck.
Alcy lief zur Tür, aber sie kam nur zwei wackelige Schritte weit, bevor alle Farbe aus ihrem Gesicht wich und sie mit einem entsetzlichen Schlag zu Boden fiel.
Dumitru sprang sofort auf und hob sie hoch, bevor sie noch ganz begriff, wie ihr geschah. Er war verblüfft, wie wenig sie wog. Ihr Kopf rollte schlaff an seinen Arm. Er sah die gefährlich fahle Blässe, die dunklen Ringe unter ihren Augen und dass ihre Wangen diesen gewissen Anflug von Rundlichkeit verloren hatten. Als er sie vorsichtig auf die Chaiselongue legte, schlug sie sofort die Augen auf.
»Ich glaube, ich bin hingefallen«, murmelte sie benommen.
»Ja, du bist in Ohnmacht gefallen«, erwiderte Dumitru, dessen Brustkorb sich sonderbar eng anfühlte. »Was hast du die letzten vier Tage über gegessen?«
»Ich weiß nicht. Ein bisschen was …«, sagte sie vage und blinzelte ihn an. »Ich hatte Angst«, setzte sie nach einem Moment hinzu, als erkläre das alles.
»Es ist mir egal, ob du Angst hast. Du musst essen.« Er ging zur Tür und probierte den
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