Nacht des Verfuehrers - Roman
betrachten. Dumitru hatte nicht die leiseste Ahnung, wie seine Gefangenschaft und seine Tätigkeit sich gestalten würden. Er hätte Alcy leere Versprechungen machen können, aber das hatte sie nicht verdient – weder die Unaufrichtigkeit noch den Trost.
Sie sagte nichts, senkte aber auch nicht die umschatteten glänzenden Augen. Nach ein paar Sekunden drehte sie sich um, doch er fasste sie nicht an, obwohl ihre Schultern bebten und sie erstickt schluchzte – er war sich nicht sicher, ob er es wirklich gewollt hätte.
Stattdessen starrte er an ihr vorbei ins Feuer, bis es auf ein paar glühende Kohlen erstarb und unruhige Träume ihn beschlichen und in den Schlaf rissen.
Am nächsten Morgen stießen weitere Männer in englischen Anzügen zu ihnen; sie bezahlten die Hajduken, damit sie verschwanden. Dumitru erklärte Alcy, dass es sich bei den Anzugträgern um Revolutionäre handle, und etwas an der Art, wie er das sagte, machte ihr Angst. Er erklärte ihr auch, wohin man sie bringen würde – zu Prinz Obrenovis Residenz in Belgrad. Der Prinz sei gerissen und skrupellos, erklärte Dumitru, und ließe sich keine Gelegenheit entgehen, seine Macht zu mehren. Er habe das Chaos der Revolution genutzt, um den Sultan zu zwingen, ihn als Herrscher des Paschaliks Belgrad anzuerkennen, und er sei der erste christliche Serbe seit über vierhundert Jahren, der einen Prinzentitel verliehen bekommen habe, worauf er dem Sultan zum Dank den Kopf
des großen serbischen Revolutionärs Karadjordje geschickt habe.
Alcy verbrachte viele Stunden damit, diese neuen Erkenntnisse zu schrecklichen Zukunftsvisionen zu verarbeiten, doch als der Tag voranschritt und der Nacht wich, fiel sie in erschöpfte Trance. Nie war sie so weit und so lange geritten. Sie hatte geglaubt, sich auf der Flucht verausgabt zu haben, doch da hatte sie noch gar nicht gewusst, was Erschöpfung war. Die Müdigkeit erstickte ihren Verstand wie eine Decke das Feuer, linderte aber nicht die bleierne Schwere, die sie nach unten zu ziehen drohte, oder den stechenden Schmerz in den Muskeln, die gegen eine Belastung protestierten, wie sie ihnen nie zuvor widerfahren war.
Die Revolutionäre tuschelten miteinander, aber Alcy konnte nicht einmal vernehmen, ob sie sich in einer ihr bekannten Sprache unterhielten. Sie versuchte, sich mit Mathematik abzulenken, und dachte über das Problem der Notation nach: Wenn extrakomplexe Zahlen durch Gleichungen beschrieben werden können, die sich innerhalb jeweils gegebener Dimensionen im Rahmen aller realen Zahlen bewegen, dann gibt es vielleicht einen Weg, die einzelnen Dimensionen getrennt voneinander zu betrachten. Schließlich kann ja auch eine Gruppe interagierender Kräfte in zwei oder drei orthogonale Komponenten zerlegt werden, mit denen separat und auf einfache Weise gerechnet werden kann.
Aber sie kam nur bis zu diesem Punkt und nicht weiter. Unmögliche Vektoren schossen ihr durch den Kopf, kollidierten miteinander und lösten sich in Nichts auf. Der Vollmond stand hoch am Himmel und schien genauso viele
falsche Schatten zu werfen, wie er zerstreute. Die Erschöpfung verwob den schwarz-silbernen Streifen des Weges, die wabernden Schatten der Pferde und den wankenden Boden zu ihren Füßen zu einem einzigen unsinnigen Teppich, der sie mit jedem Kilometer tiefer in seine wandelbaren Muster zog.
Sie spürte, wie sie ins Fallen geriet – und erwachte gerade noch rechtzeitig, um ihr Gleichgewicht zu erlangen. Sie hatten angehalten. Sie sah sich erstaunt um, denn anstatt in den Tiefen einer unerschlossenen Wildnis fand sie sich an einem Ort wieder, der ganz wie der Hof einer Herberge aussah – mit den Stallungen auf der einen Seite, dem Gasthof auf der anderen und zwei bedrohlichen, hohen Steinmauern an den beiden übrigen. Das Tor war fest verschlossen. Es gab keinen Ausweg.
Ein Kind von unbestimmbarem Geschlecht und Alter hüpfte aus der Tür des Gasthofs, sprach hastig mit den Männern und nahm zwei der Pferde am Zügel, während die Männer abstiegen. Bald tauchten weitere Kinder auf. Als einer der Männer ihm zunickte, schwang Dumitru sich aus dem Sattel. Alcy rutschte vorsichtig aus dem ihren und versuchte, die Belustigung auf den Gesichtern der Serben zu ignorieren. Als ihre Beine den Boden berührten, knickten sie ihr einfach weg.
Dumitru war bei ihr, bevor sie auf dem Boden aufschlug, und ersparte ihr mit seinen starken Armen den demütigenden Sturz. Seine Arme fühlten sich so unerhört gut an, so
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