Nacht des Verfuehrers - Roman
Wangen hohler geworden, sodass er noch mehr einem Wolf ähnelte. »Aber nicht, dass du nicht davongelaufen wärst?«
»Nein. Du wolltest dir meinen Pflichtteil unter den Nagel reißen, da konnte ich nicht bleiben«, sagte Alcy mit brutaler Aufrichtigkeit. »Warum bist du mir über die Donau gefolgt?«
»Weil ich dich wollte. Weil ich dich liebe«, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken.
Alcy gab einen frustrierten Laut von sich. »Aber du
wusstest, dass das für einen Adeligen gefährlich werden kann, und dein Aussehen macht es doppelt gefährlich.«
»Du meinst, weil es in diesem Winkel der Welt nicht viele grauhaarige Männer von einunddreißig Jahren gibt, die französische Anzüge tragen und ein edles Pferd reiten?«, fragte Dumitru leichthin.
»Einunddreißig?«, fragte Alcy und verlor vor Überraschung den Faden. »Du bist einunddreißig?«
»Zweiunddreißig«, berichtigte er. »Der erste Oktober dürfte mittlerweile vorüber sein, aber seit dem Tag, an dem du mich verlassen hast, fühlt sich ohnehin alles wie November an.«
»Ich dachte, du wärst …« Älter? Jünger? Sie wusste es nicht zu sagen. Manchmal erschien er ihr sogar jünger als sie. Und manchmal kam er ihr älter vor als die Berge.
»Ich weiß«, sagte er und betrachtete immer noch die prasselnden Flammen. Wieso war ihr nie aufgefallen, dass die rechte Seite seines Mundes einen kleinen Höcker bekam, wenn er lächelte, ohne dass ihm danach war?
Alcy wurde die Kehle eng. Sie wünschte, sie hätte irgendetwas sagen können, damit wieder alles gut wurde. Eine Entschuldigung wäre jetzt bloß eine leere Floskel gewesen, zumal sie die gegenwärtige Situation tief bedauerte, nicht aber ihre Entscheidung, die sie in diese Lage gebracht hatte. Außerdem hatte er sie nie um Verzeihung für das gebeten, was er ihr hatte antun wollen, das durfte sie nicht vergessen. Dumitru zu lieben war leicht, ihm zu vertrauen gefährlich. Also schwieg sie, bis sie spät am Abend einschliefen – nur auf Armeslänge entfernt und doch eine Welt voneinander getrennt.
Sie ritten nun schon den vierten Tag durch Wälder und unbewohntes Weideland, nur das eine oder andere armselige Dorf störte gelegentlich die Monotonie. Das Land war desolat und wild, und seine Leere schien auch Alcy auszulaugen. Sie war die Betriebsamkeit und Unruhe wimmelnder Städte gewohnt, den schwarzen Ruß und den mechanischen Lärm der Industrie, das Klappern der Hufe, das Quietschen der Räder, den vielstimmigen Chor Hunderter von Menschen, die redeten, lachten, sich stritten, lebten. Die Zeit auf Severinor war wie der Traum von einem anderen Ort gewesen, nicht wirklich real. Doch selbst dort hatte das Vorhandensein eines ganzen Dorfes mit vierhundert Menschen dem Gefühl der Einsamkeit Einhalt geboten. Auf der Anreise von Orsova hatten ihr so viele Bedenken zugesetzt, dass kaum etwas zu ihr vorgedrungen war, und auf der Flucht aus Severinor hatte sie viel zu viel Angst gehabt. Doch jetzt erdrückte sie das Gefühl der Isolation, diese Stille und die Unmenschlichkeit dieses wilden Landes mit seinen spärlichen Außenposten einer altertümlichen, entkräfteten Zivilisation.
Am Tag vor ihrer Ankunft in Belgrad setzten bei Alcy die Monatsblutungen ein, was sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung zur Kenntnis nahm – und voller Verwirrung, weil ihre Gefühle so durcheinander waren, wenngleich vordergründig alles so simpel erschien. Dumitru hatte versucht, ihr den Pflichtteil zu stehlen – hatte es inzwischen, nach allem was sie wusste, vermutlich sogar geschafft. Er hatte sich gegen sie verschworen, um sie hilflos, abhängig und handlungsunfähig zu machen. Was immer sonst zwischen ihnen war, was immer sie getan hatte, diese Tatsache blieb bestehen, also musste sie ihr
Heil nach wie vor in der Flucht suchen, sich aller Fesseln entledigen und sich von der Schande der Eheschließung befreien, zu der er sie verleitet hatte.
Aber da war auch, nie ganz vergessen, die Angst vor dem, was sie in Belgrad erwartete. Vielleicht blutete sie gerade die einzige Hoffnung auf Fortbestand aus, die Dumitru je haben würde; ihre einzige Chance, ein Stück von ihm zu behalten . Vielleicht verliere ich ihn ja, dachte sie. Ich will ihn nicht. Ich kann ihn nicht behalten. Aber ich kann es nicht ertragen, ihn auf diese Weise zu verlieren, und zwar nicht nur seinetwegen, sondern auch meinetwegen.
Doch Alcy gehörte nach England. Das war ihr jetzt klar. Nach der Annullierung der Ehe würde
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