Nacht in Havanna
Geschmack anders war, betörend und kräftig, als wäre sie mit einer süßen Likörschicht überzogen.
Er war hilflos in seiner Gier, während sie ihn langsam in sich hineinzog. Es lag etwas Verzweifeltes in diesem Festmahl für die Verhungernden, die das Fastengelübde abgelegt hatten.
Er hätte behauptet, daß ihm die Menschen am Herzen lagen, daß er ihnen alles Gute wünschte und sein Bestes für sie tat, doch er war tot gewesen. Aber sie hätte Lazarus erweckt, als sie ihre Beine um ihn schlang, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Sie küßte seine Stirn, seine Lippen und die Blutergüsse an seinem Innenarm, als hätte jeder Kuß heilsame Wirkung. Sie war hart und gleichzeitig geschmeidig und weich und bei weitem ungehemmter in ihrer Lust als er. Das schien auf Kuba erlaubt zu sein.
Von draußen hörte er das Meer murmeln: Dies ist die Welle, die den Strand wegspülen, die Gebäude einreißen und die Straßen überfluten wird. Dies ist die Welle. Dies ist die Welle.
Arkadi breitete Pribludas Foto vom Havana Yacht Club, die Unterlagen der AzuPanama, die rekonstruierte Chronologie von Pribludas letztem Tag und die Liste mit Terminen und Telefonnummern von Rufos Wand auf dem Bett aus. Während Ofelia die Dokumente studierte, betrachtete Arkadi den blaugestrichenen Zementboden, die pinkfarbenen Wände mit Cupidos aus Pappmache, die Plastikrosen in einem Eiskübel und die Lüftung, die röchelte wie eine startende Iljuschin. Sie hatten Changö auf einen Stuhl in der Ecke gesetzt, der Kopf der Puppe lehnte schwer am Küchentresen, seine Hand balancierte auf dem Spazierstock.
»Wenn diese Dokumente echt wären«, sagte Ofelia, »entonces, kann ich verstehen, warum ein Russe zu der Ansicht kommen könnte, daß die AzuPanama eher ein Instrument des kubanischen Zuckerministeriums als eine ursprünglich panamaische Firma ist.«
»Es hätte ganz den Anschein.«
Arkadi erzählte ihr von O’Brien und den mexikanischen LkwErsatzteilen, den amerikanischen Stiefeln und dem echten Havana Yacht Club.
»Er ist ein Charmeur, ein Intrigant, er wechselt ständig seine Geschichte. Man kommt sich vor, als ob man an der Nase herumgeführt würde.«
»Genauso ist es.«
Er war abgelenkt durch die Tatsache, daß sie nur seinen Mantel und ihre gelben Perlen trug. Er hatte nicht bemerkt, wann sie die Kette umgelegt hatte. Der Mantel war ihr viel zu groß, und es war, als würde man das Foto einer Frau in einem Rahmen betrachten, der immer das Bild einer anderen enthalten hatte. In jeder Sekunde, die der Mantel auf ihrer Haut lag, nahm er ihren Duft und ihre Hitze an, so daß eine Erinnerung die andere überlagerte.
Ofelia wußte das. Obwohl wissen vielleicht zuviel gesagt wäre, doch man konnte ihr durchaus vorwerfen, daß sie, nachdem sie seine Trauer erkannt und seinen Verlust vermutet, die Zärtlichkeit, mit der er diesen Mantel behandelte, beobachtet und den Hauch von Parfüm an dessen Ärmel gerochen hatte, entschlossen gewesen war, diesen Mantel selbst zu tragen. Warum? Weil hier ein Mann war, der eine Frau so sehr geliebt hatte, daß er bereit war, ihr in den Tod zu folgen.
Vielleicht war er aber auch nur der melancholische Typ - eben ein Russe. Doch sie mußte sich eingestehen, daß der einzige Mensch, der ihr als möglicher Retter eingefallen war, als sie in einem Sack verschnürt und kaum noch atmend im Kofferraum des Wagens gelegen hatte, dieser Mann gewesen war, den sie noch nicht einmal eine Woche lang kannte. Muevete! sagte Ofelia sich. Zieh dich an und lauf. Statt dessen sagte sie: »In Panama kann fast alles passieren. O’Briens Bank befindet sich in der panamaischen Freihandelszone Colon, wo alles möglich ist. Trotzdem war er in der Vergangenheit immer ein Freund Kubas, und ich kann nicht erkennen, was Zucker mit dem Havana Yacht Club, Hedy oder Sargento Luna zu tun hat.«
»Ich auch nicht, aber man versucht nicht, einen Mann umzubringen, der in einer Woche ohnehin wieder abreist, wenn das, was geplant ist, nicht bald passieren soll. Hinterher wird natürlich alles vollkommen klar sein.«
So derangiert in einem weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, eine Zigarette zwischen den langen Fingern, war er Ofelias Bild von einem russischen Musiker. Ein Musiker, der neben einem steckengebliebenen Bus irgendwo im Ural am Straßenrand saß. »Noch mal ganz langsam: Du sagst, Rufo, Hedy, Luna, alles, was bisher geschehen ist, ist geschehen, um ein Verbrechen zu tarnen, das bis jetzt noch gar nicht stattgefunden
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