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Nacht in Havanna

Nacht in Havanna

Titel: Nacht in Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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niemand anderen in die Sache verwickeln wollte, bevor sie wußte, welche Beweise sich finden ließen. Ein Polizist der PNR beschuldigte einen Beamten des Innenministeriums nicht leichtfertig. Das war die offizielle Begründung. Der eigentliche Grund war persönlicher Natur. Nichts demütigte Ofelia so sehr wie ihre eigene Angst, und im Kofferraum dieses Lada hatte sie beinahe vor Angst geweint. Sie hatte zusätzliche Übungseinheiten am Schießstand von Guanabo genommen, damit sie in solchen Situationen keine Angst empfand. Über dem Tresen hing ein verstaubter Spiegel. Ihr Blick streifte ihr Spiegelbild, als sie die Pistole aus ihrer Strohtasche nahm und hin und her schwenkte. Waffe und Körper waren eins in der Bewegung einer gefährlichen kleinen jinetera.
    Als sie so in der Lobby stand, schmeckte sie wieder Kokosnußfasern und -milch. Und genauso hatte Luna sie aufgehoben, wie eine Kokosnuß in einen Sack gesteckt und in den Kofferraum geworfen. Auf dem Weg zum Gebäude hatte sie nach dem Lada gesucht, doch er war verschwunden und wurde vielleicht schon in einem Lagerhaus von Atares ausgeschlachtet. Eine glänzende Spur markierte den Weg des Karrens über das Bodenmosaik aus Hammer und Sichel zu einem düsteren Korridor mit Zementwänden und Türen aus kubanischem Hartholz.
    Ofelia stieß die erste Tür auf und betrat einen leeren Gepäckraum, sicherte ihn mit der Waffe ab und kehrte in den Flur zurück, bevor irgendwer in ihrem Rücken auftauchen konnte. An der nächsten Tür prangte der Titel »Direktor«, was mehr Geräumigkeit und Licht versprach als der enge, dunkle Flur. Sie hatte die Waffe nachgeladen, aber keine Taschenlampe mitgenommen. Daran hätte sie denken müssen.
    Dies war die Art Situation, in der man abschätzen mußte, was einen höchstwahrscheinlich erwartete. Ein Sargento aus dem Innenministerium trug die gleiche Waffe wie sie, doch ein Mann aus Oriente hatte vielleicht mehr Vertrauen in eine Machete. Außerdem kannte er den Grundriß des Gebäudes und sie nicht. Wie ein überdimensionierter Kobold konnte er jeden Moment aus einer Ecke hervorschnellen.
    Ofelia stieß die Tür mit dem Fuß auf, schlüpfte in das Zimmer und kauerte sich an eine Wand. Als ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte sie, daß Schreibtisch, Stühle und Teppich aus dem Büro geräumt worden waren. Zurückgeblieben waren nur eine Leninbüste auf einem Sockel und rote und schwarze Streifen, die auf die Wände, die Fenster und Lenins Gesicht gesprüht worden waren. Sie hörte ein Geräusch aus dem Flur.
    Ofelia kam der Gedanke, daß sie vielleicht wieder ihre Uniform hätte anziehen sollen. Was würden die Kollegen von der PNR denken, wenn man sie in diesem Aufzug fand? Und Blas? Er würde sich vorstellen, wieviel Spaß sie in Madrid hätten haben können.
    Auf einem Knie kroch sie aus dem Büro und schwenkte den Lauf der Waffe von links nach rechts. Was immer das Geräusch verursacht hatte, es war weg, obwohl Luna aus jeder Richtung kommen konnte. Nun zahlten sich die Schießübungen zumindest so aus, daß sie die schwere Waffe eine Weile ruhig halten konnte. Ihr kam in den Sinn, daß es ziemlich albern war, das Bananenbrot mit sich herumzuschleppen, und sie dachte daran, sich dieser Last zu entledigen. Aber die Mädchen hatten geholfen, es zu backen. Das nächste Büro war bis auf Maiskörner und Federn am Boden ebenfalls leer. Sie hörte hinter sich Schritte, zögernd und zurückhaltend, und sie versuchte so weit in die Hocke zu gehen, daß sie die Umrisse einer Gestalt ausmachen konnte. Sie durchquerte den Flur und betrat ein ehemaliges Sitzungszimmer ohne Tisch, Stühle und Fenster, das nur mit einer Galerie von gerahmten, blassen Russengesichtern und Schiffen möbliert war. Wenn sie von mehr als einer Person verfolgt wurde, wäre dies die ideale Gelegenheit, von beiden Seiten die Tür zu verschließen und sie damit so gründlich wegzusperren, daß sie ebensogut in einer Gruft liegen konnte. Langsamer, sagte sie sich, doch sie mußte gegen ihre Schweißtropfen anblinzeln, atmete durch den Mund, ebenfalls kein gutes Zeichen, und ihre Schulter schmerzte vom Gewicht der Waffe. Sie bewegte sich durch das Dunkel, bis sie die Tür zu einer Wäschekammer erreichte, wo das Licht durch unzerbrochene Fenster auf noch immer weiße Regale fiel, in denen Laken und Kopfkissenbezüge aufbewahrt worden waren. Sogar der Staub war weiß wie Talkum. Auf dem Boden lag ein kopfloses Huhn in einem Kreis aus

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