Nacht in Havanna
Vergangenheit.«
Er verließ das Haus durch die Werkstatt und folgte ein gutes Stück der Seitenstraße, bevor er sich wieder auf den Malecon wagte. Im Lauf weniger Tage war ihm der Boulevard vertraut geworden, die hustenden Lkw, die Jungen, die von der Mole Netze auswarfen, die schmuddeligen Hunde, die am Kadaver einer plattgefahrenen Möwe nagten. Ein Streifenpolizist an der Ecke widmete seine volle Aufmerksamkeit einer mit weiblichen Teenagern beladenen Fahrraddroschke. Kein Luna weit und breit.
In der Hand hielt Arkadi Pribludas vierzig Jahre alten, faltbaren Texaco-Stadtplan, der noch den Präsidentenpalast, die amerikanische Botschaft, den kubanisch-amerikanischen Jockey-Club mit angeschlossener Rennbahn, Woolworth sowie den Biltmore Country Club eines untergegangenen Havanna verzeichnete. Dabei war die Stadt auch so schon hinreichend surreal. Die Häuser entlang des Malecon waren Phantasien: griechische Giebel auf maurischen Säulen mit Lilien in verblaßten Blau- und Pinktönen. Wenn Venedig im Meer zu versinken drohte, dann sah Havanna aus, als wäre es bereits untergegangen und wieder aufgetaucht.
Arkadi war überrascht, wie sehr das Havanna der Gegenwart noch der Stadt auf der vierzig Jahre alten Karte ähnelte. Er ging an dem monumentalen Hotel Nacional und dem verwinkelten Glasturm des Hotel Riviera vorbei, beide laut Hinweis »bei amerikanischen Urlaubern beliebt«. An der ehemaligen Texaco-Tankstelle mit »Fire-Chief-Service« ließen sich neumaticos ihre Schläuche mit Luft füllen.
Arkadi brauchte neunzig Minuten, um die gesamte Länge des Malecon abzugehen, den Almendares mit seinen kleinen Werften und dem Abwassergestank zu überqueren und in westlicher Richtung weiterzuwandern, vorbei an Miramar, dem Haus von Erasmos Familie und der Stelle, wo Mongo verschwunden war. Er hätte unterwegs überall ein Taxi nehmen können, und er wußte inzwischen, daß auch die Hälfte der Privatautos sich nur zu gern anhalten ließ, wenn es ein paar amerikanische Dollars zu verdienen gab. Doch er wollte nicht in die Vergangenheit fahren, er wollte Schritt für Schritt darin versinken.
Am Ende von Miramar kam er an einen Kreisverkehr mit einer weiteren ehemaligen Texaco-Tankstelle, einer einstigen Hunderennbahn, und - laut Pribludas Stadtplan - dem Havana Yacht Club.
Eine Auffahrt führte an einer Reihe Königspalmen entlang und weiter um eine Rasenfläche zu einer klassizistischen Villa mit imposanten Säulen, einer ausladenden Doppeltreppe und einer breiten Kolonnade. Über dem Haus lag die gespenstische Ruhe eines nach einem Staatsstreich verlassenen, kolonialen Gouverneurspalast, dessen Bewohner evakuiert worden waren. Fenster, die das Sonnenlicht gebrochen spiegelten, und ein fehlender Dachziegel in der Walm waren erste Anzeichen des Verfalls. Über dem Giebel einer zentralen Veranda prangte ein in Stein gehauenes Wappen mit einem Schiffssteuerrad. Bis auf das leise Rascheln der Palmwedel rührte sich nichts an diesem Ort, doch Arkadi konnte sich gut vorstellen, wie die gesellschaftliche Elite Havannas auf dieser Treppe posierte, weil er es auf Erasmos Familienfotos gesehen hatte.
Er stieg eine Treppe hinauf und öffnete eine Mahagonitür, die in eine weißgetünchte Halle mit Sandsteinboden führte. Unter einem gußeisernen Kronleuchter saß eine ältere Frau auf einem Aluminiumstuhl und starrte ihn durch ihre dicke Brille an, als wäre er von einem Raumschiff abgesetzt worden. Neben ihr stand ein rotes Telefon, und der Anblick des fremden Besuchers veranlaßte sie zu wählen und mit irgend jemandem in undeutlichem Spanisch zu reden, während Arkadi durch hohe Flügeltüren einen leeren Saal betrat. In einer Reihe miteinander verbundener Empfangsräume hallten seine Schritte wider wie in einer hellen, geräumigen Gruft. Er ging auf eine Bar zu, deren geschwungener Tresen ohne Hocker, Stühle und Flaschen ganz nackt aussah. Über einer leeren Vitrine, die einst Regattatrophäen, Ranglisten und Modellschiffe beherbergt haben mußte, hing ein Porträt von Che. Die nautische Motivik war nur noch in Wandmedaillons mit dem Steuerrad erhalten. Von der Bar führte eine Tür in einen Garten mit Bühne für eine Band, die sogar Amerikanern den Mambo beibringen konnte.
Er ging wieder hinein und stieg in den ersten Stock. Am Ende der Treppe stand ein hoher Admiralsstuhl aus schwarzem Mahagoni. Ansonsten war die Inneneinrichtung abtransportiert und bis auf die Metallstühle der Revolution auch durch nichts
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