Nacht in Havanna
»John«, sagte Walls, »darf ich dir Arkadi Renko vorstellen. Arkadi, John O’Brien.«
»Es ist mir ein großes Vergnügen.« O’Brien ergriff Arkadis Hand mit beiden Händen. Als er dessen Blick auf seinen Schlafanzug bemerkte, meinte er: »Nun, es ist mein Boot, und ich kleide mich, wie es mir gefällt. Wußten Sie, daß Winston Churchill immer im Adamskostüm herumspaziert ist. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Und Sie tragen diesen ziemlich erstaunlichen Mantel, von dem George mir schon erzählt hat. Ich bitte um Verzeihung, daß ich nicht schon früher an Deck gekommen bin, aber wenn George die »Gavilan« aufdreht, bleibe ich lieber unten. Über Bord zu gehen, würde mein Stolz womöglich nicht verkraften. Ich hoffe, Sie mögen Cafe Cubano?«
Walls goß ein. Arkadi schätzte O’Brien auf knapp siebzig, doch er hatte eine jugendliche Stimme, gewinnende Augen und ein ovales Gesicht, das mit feinen Sommersprossen übersät war wie das Ei eines Küstenvogels. Er trug einen Ehering und eine silberne Breitling am Handgelenk.
»Wie gefällt Ihnen Havanna?« fragte er Arkadi. »Sehr schön, interessant, warm.«
»Die Frauen sind unglaublich. Mein Freund George ist bis über beide Ohren verliebt. Das kann ich mir nicht leisten, weil ich noch eine Familie auf Long Island, New York, habe, eine vollkommen andere Insel. Ich glaube nun mal an Treue und daran, daß ich, so Gott will, eines Tages nach Hause zurückkehren werde.«
»Gibt es diesbezüglich zur Zeit Probleme?« fragte Arkadi, bemüht, das Thema so taktvoll wie möglich anzusprechen.
O’Brien wischte einen Krümel vom Tisch. »Die eine oder andere juristische Hürde. George und ich hatten das Glück, hier in Kuba eine Heimat fern der Heimat zu finden. Es tut mir übrigens leid, was ich von Ihrem Freund Pribluda gehört habe. Die Polizei glaubt, er ist tot?«
»Ja. Kannten Sie ihn?«
»Natürlich. Er wollte in Sicherheitsfragen mit uns zusammenarbeiten. Ein schlichter Mann, würde ich sagen. Kein besonders guter Spion, fürchte ich.«
»Es ist nicht meine Aufgabe, Spione zu beurteilen.«
»Nein, Sie sind natürlich nur ein bescheidener Ermittler«, erwiderte O’Brien augenzwinkernd und mit dem Hauch eines irischen Akzents. Er klatschte in die Hände. »Was für ein Tag! Wenn man schon ein Justizflüchtling ist, wo wollte man lieber sein?«
»Sind Sie die einzigen Flüchtlinge auf Kuba?«
»Kaum. Wie viele von uns gibt es hier?« O’Brien warf Walls einen schwärmerischen Blick zu. »Vierundachtzig.«
»Vierundachtzig Amerikaner auf der Flucht. Nun, das ist allemal besser als ein Leben in einem Bundesgefängnis mit Mindestsicherheitsstandards, wo man nur Anwälte, Kongreßabgeordnete und Drogenhändler trifft, also den üblichen Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung. Für einen Geschäftsmann wie mich ist das hier eine Gelegenheit, vollkommen neue Menschen kennenzulernen. In den Staaten hätte ich nie die Chance gehabt, so nahe an George heranzukommen.«
»Das heißt, Sie versuchen, sich zu betätigen?«
»Wir versuchen, am Leben zu bleiben«, sagte O’Brien. »Sehr nützlich. Sagen Sie, was tun Sie hier, Arkadi?«
»Das gleiche.«
»Indem Sie den Havana Yacht Club besuchen? Erklären Sie mir, was das mit einem toten Russen zu tun hat.«
»Ein Vermißter an einem Ort, den es nicht mehr gibt? Für mich klingt das absolut perfekt.«
»Er ist ein wenig zurückhaltend«, sagte Walls zu O’Brien. »Nein, er hat vollkommen recht«, sagte O’Brien und tätschelte Arkadis Knie. »Arkadi ist ein Mann, der sich gerade zum Kartenspielen an den Tisch gesetzt hat und weder die Regeln des Spiels noch den Wert seiner Chips kennt.« O’Briens schwarzer Pyjama hatte Taschen, aus denen er eine dicke Zigarre fischte, die er zwischen den Fingerspitzen hin und her rollte. »Kennen Sie den kubanischen Schachgroßmeister Capablanca? Er war ein Genie, das zehn oder elf Züge vorausdachte. Er rauchte beim Spielen natürlich kubanische Zigarren. Bei einem Titelkampf nahm ihm sein Gegner das Versprechen ab, nicht zu rauchen. Trotzdem zückte Capablanca seine Zigarre, drückte darauf herum, leckte sie ab und roch daran, bis sein Gegner durchdrehte, das Spiel verlor und anschließend erklärte, nicht zu wissen, ob Capablanca seine Zigarre anzünden werde, sei schlimmer gewesen, als wenn er geraucht hätte. Auch ich liebe kubanische Zigarren, obwohl der Scherz auf meine eigenen Kosten geht, weil mein Arzt mir das Rauchen verboten hat. Ich quäle mich nur
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