Nacht in Havanna
das letzte noch lebende Mitglied.«
»Ich gebe zu, daß es nicht komisch klingt, wenn Sie es so ausdrücken.«
»Es sei denn, es sind noch mehr. Gibt es noch andere Mitglieder, von denen Sie mir nichts erzählt haben?«
»Nein.«
»Rufo?«
»Nein.«
»Luna?«
»Nein, nur wir drei, sonst niemand. Wissen Sie was, Sie gehen mir auf die Nerven. Und Sie machen meine Freunde hier sehr nervös.«
Die Chinesen verfolgten das Gespräch mit ebenso großer Besorgnis wie Verständnislosigkeit. Erasmo stellte Arkadi kühl vor, die drei Chinesen waren Brüder namens Liu mit stacheligem schwarzen Haar und einer Zigarette zwischen den Zähnen. Arkadi ließ seinen Blick über die stille Anarchie des Friedhofs schweifen: ein Marmorkreuz, das an einem buddhistischen Altar lehnte, Tafeln mit chinesischen Schriftzeichen und Trauergirlanden, Grabsteine, auf denen die Fotografien von Verstorbenen durch verschmutzte ovale Scheiben blickten. Ein schöner Ort zum Sterben, dachte Arkadi, ruhig, kühl und malerisch.
»Das ist also der Chinesische Friedhof?«
»Ja«, bestätigte Erasmo. »Ich habe den Lius erzählt, daß Sie ein Experte in Verbrechensbekämpfung sind und daß Sie deshalb so wütend sind. Jetzt fühlen sie sich schon viel besser.«
»Gibt es viele Verbrechen auf einem Friedhof?«
»Auf diesem schon.«
Arkadi erkannte, daß zahlreiche Grabsteine Risse aufwiesen und mit Zementfugen und Stahlbändern verstärkt worden waren. Einige der Schäden waren der Zeit und den sich ausbreitenden Wurzeln von Bäumen zuzuschreiben, doch es gab auch Anzeichen von Vandalismus, Marmor war durch Betonblöcke ersetzt, und diverse Grüften waren mit Vorhängeschlössern gesichert worden, wahrscheinlich nicht, um die Toten einzusperren, dachte Arkadi. »Mögen die Kubaner die Chinesen nicht?«
»Die Kubaner lieben die Chinesen, das ist das Problem. Und manche Kubaner brauchen Glücksknochen.«
»Wozu?«
»Für ihre Zeremonien. Wenn sie Geld brauchen, graben sie die Knochen eines Bankiers aus, wenn sie gesund werden wollen, die eines Arztes.«
»Klingt logisch.«
»Zum großen Bedauern der Chinesen gelten ihre Knochen als die besten Glücksbringer. Deshalb machen sich gewisse Leute mit Stemmeisen und Schaufeln auf den Weg, was die chinesischen Familien, die ihre Ahnen verehren, sehr beunruhigt. Tot oder lebendig, sie wollen ihren Großvater in einem Stück. Ich hatte ja keine Ahnung, daß sich Erfahrungen im Umgang mit Sprengstoff im zivilen Leben als so nützlich erweisen würden. Woher wußten Sie, wo Sie mich finden können?«
»Tico hat Funkstille gewahrt, aber ich habe ihn überredet, es mir aufzuschreiben.« Arkadi warf einen Blick auf den Sarg, wo Erasmo einen Bohrer, eine Schweißmanschette, eine Schweißerbrille und einen Mundschutz auf einem Handtuch ausgebreitet hatte. Aus einer Sporttasche nahm er ein Gefäß mit feinkörnigem schwarzen Inhalt. »Schießpulver?«
»Nur eine Prise. Ohne wäre das Leben langweilig.« Die Gebrüder Liu hatten offenbar beschlossen, eine Pause zu machen. Sie schlitzten eine Papaya auf und setzten sich zum Essen zwischen die Grabsteine, wo sich die Chihuahuas zu Füßen marmorner Löwen zusammengerollt hatten. War das der »chinesische Kontakt«, von dem Pribluda gesprochen hatte, ein Ort, zu dem man kam, um Glücksknochen zu holen? Sein Problem war, daß er das Gefühl hatte, rückwärts zu fahren und statt mehr immer weniger zu wissen. Er wußte nicht, wie oder wo Pribluda gestorben war, geschweige denn, warum. Pribludas Bekanntenkreis wurde ständig größer, aber niemand hatte etwas mit den Zuckerpreisen zu tun, womit der Oberst vermeintlich betraut gewesen war. Arkadi hatte nie zuvor eine solche Bandbreite vollkommen zusammenhangloser Menschen und Ereignisse angetroffen: Männer in Reifenschläuchen, Amerikaner auf der Flucht, ein Verrückter aus Oriente, eine Ballerina und jetzt Chinesen und Chihuahuas. In Wahrheit, dachte Arkadi, gab es mit der möglichen Ausnahme von Grabschändung keinerlei Anzeichen für ein Verbrechen, von den Angriffen auf seine Person einmal abgesehen, und das war schlicht schlechtes Timing gewesen, sie hätten bloß warten müssen. Und jetzt? Sein Kopf wurde langsam wieder klar, die Blutergüsse an seinen Beinen hatten sich von Blau zu einem ermutigenden Grün verfärbt, und er fand die absolut amorphe Beweislage recht interessant. Er mußte sie interessant finden, denn solange er beschäftigt war, war er wie ein Mann, der über tiefes schwarzes Wasser wandelte.
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