Nacht in Havanna
Selbstporträts der Schüler in ihren braunen Uniformen verziert waren, die Mädchen in Röcken, die Jungen in Shorts. Daneben Wandgemälde zum Thema »Widerstand!«, auf denen Kinder mit Gewehren hilflose amerikanische Jets vom Himmel schossen.
Muriels Klasse hatte vor kurzem eine Bananenplantage besichtigt, und das Klassenzimmer war mit Papierbananen dekoriert. Ofelia fragte sich, woher sie das Papier hatten. In der Schule mußten sich drei Schüler ein Lehrbuch teilen, in der Bibliothek hatte es seit drei Jahren keine Neuanschaffungen mehr gegeben, und im Chemieunterricht fehlten die Chemikalien. »Sie lernen eben abstraktes Denken«, meinte ihre Mutter spöttisch; trotzdem war die Schule sauber und ordentlich. Ofelia entschuldigte sich wortreich bei Senorita Garcia, Muriels Lehrerin, einer älteren Frau mit zerbrechlichen Gliedern und Augenbrauen so dünn wie Spinnenbeine.
»Ich hatte schon fast geglaubt, daß Sie nicht mehr kommen.« Die hochgezogenen Brauen signalisierten milde Verzweiflung. »Es tut mir wirklich sehr leid.« Gab es etwas Demütigenderes als das Treffen eines Elternteils mit einem Lehrer, fragte Ofelia sich. »Wollten Sie mich wegen etwas Speziellem sprechen?«
»Natürlich. Warum hätte ich Sie sonst hergebeten?«
»Es gibt ein Problem, no?«
»Ja. Ein großes Problem.«
»Macht Muriel ihre Hausaufgaben nicht?«
»Sie gibt ihre Hausaufgaben regelmäßig ab.«
»Und sind sie gut?«
»Durchschnittlich.«
»Hat sie sich in der Schule falsch verhalten?«
»Ihr Betragen ist normal. Deswegen durfte sie ja mit auf den Ausflug. Aber tief in ihr, tief in der Seele dieses kleinen Mädchens verbirgt sich etwas Verdorbenes.«
»Verdorben?«
»Verfault.«
»Hat sie jemanden geschlagen, hat sie gelogen?«
»Nein, nein, nein, nein. Versuchen Sie nicht, so leicht davonzukommen. Tief in ihrem Herzen nagt ein Wurm.«
»Was hat sie denn angestellt?«
»Sie hat mein Vertrauen mißbraucht. Ich habe nur meine besten Schülerinnen mit auf die Plantage genommen, damit sie den Kampf auf dem Land kennenlernen. Statt dessen hat sie sich als diebische Antirevolutionärin entpuppt.« Senorita Garcia stellte eine Papiertüte auf den Tisch. »Auf der Rückfahrt ist ihr das hier unter dem Hemd hervorgerutscht. Ich habe es fallen hören.« Ofelia blickte in die Tüte. »Eine Banane.«
»Gestohlene Waren. Gestohlen von der Tochter einer PNR-Beamtin. Damit fängt es an.«
»Genaugenommen eine Bananenschale, wo?« Ofelia hielt sie an einem Ende hoch. Die Schale war braun und fleckig, an der Grenze zur Fäulnis.
»Banane oder Bananenschale, das macht keinen Unterschied.«
»Hat sie sie gegessen oder nicht?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Sie haben sie hinfallen hören. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß Sie in einem fahrenden Bus gehört haben, wie eine Bananenschale zu Boden gefallen ist.«
»Darum geht es nicht.«
»In wessen Obhut hat sich die Banane befunden? Möglicherweise ist mehr als eine Person in die Sache verwickelt, vielleicht ein ganzer Verbrecherring. Ich werde die Banane gründlich auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Ich bin froh, daß Sie mich auf den Fall aufmerksam gemacht haben. Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden sie alle erwischen. Wollen Sie, daß ich das tue?«
»Nun ja…« Senorita Garcia lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Mundwinkel. »Sie war natürlich in meiner Obhut. Ich weiß nicht, wie es zu ihrem Verzehr gekommen ist.«
»Das können wir ermitteln. Wir könnten dafür sorgen, daß die Übeltäter ihr Gesicht nie wieder an dieser Schule zeigen. Wollen Sie das?«
Senorita Garcia blickte zur Seite und ließ die Augenbrauen sinken. »Ich nehme an, ich war hungrig«, sagte sie mit einer vollkommen veränderten Stimme.
Jetzt fühlte Ofelia sich noch mieser. Es lag keinerlei Befriedigung darin, eine Lehrerin einzuschüchtern, die nicht einmal merkte, daß sie langsam verhungerte. Senorita Garcias Problem war ihre revolutionäre Reinheit; sie mußte der einzige Mensch sein, den Ofelia kannte, der nicht irgendein kleines Nebengeschäft unterhielt. Als nächstes würde die arme Frau zu halluzinieren beginnen und Che durch die Flure wandeln sehen. Ofelia schämte sich so sehr, daß sie es kaum erwarten konnte, sich Muriel vorzuknöpfen.
Arkadi öffnete den Aktenkoffer und legte den Inhalt auf Pribludas Schreibtisch, Fotokopien von Dokumenten, die natürlich ausschließlich in spanisch verfaßt waren. Wenn er in der Schule bloß
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