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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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gemeint war. Hubert umkreiste sie in einigem Abstand, blieb hinter ihr stehen. Sie spürte seine Aufmerksamkeit.
    Woran denkst du?
    An die Schauspielschule.
    Wie fühlst du dich?
    Ich weiß nicht. Müde.
    Setz dich.
    Sie musste sich auf den kalten Boden setzen, die Beine angewinkelt, die Arme auf den Knien abgestützt und mit einer Hand das Gelenk der anderen umfassen. Eine Statue von Maillol fiel ihr ein, die genau diese Pose zeigte. Hubert zog die Eieruhr auf, zeichnete. Manchmal stöhnte er oder warf wütend die Kohle auf den Boden. Es geht nicht. Die Uhr klingelte, sie teilten sich ein Bier, eine neue Position. Je länger es dauerte, desto schweigsamer wurde Hubert. Manchmal warf er ein Blatt schon nach einer einzelnen Linie auf den Boden. Gillian war müde, ihr Körper verkrampft, sie hatte Schmerzen. In der nächsten Pause machte sie ein paar Dehnungsübungen, aber Hubert hatte die Uhr schon wieder aufgezogen.
    Zieh dich aus.
    Sie öffnete den Kimono. Er trat hinter sie und riss ihn ihr fast vom Körper.
    Leg dich hin.
    Sie legte sich auf den Bauch, den Kopf seitwärts auf ihren Armen. Sie spürte, wie sie überall am Körper Gänsehaut bekam.
    Ich muss zur Toilette.
    Jetzt nicht. Die Arme an den Körper.
    Der kalte Boden drückte schmerzhaft gegen ihren Wangenknochen. Hubert stand dicht neben ihr, sie sah nur seine Füße und seine Beine.
    Dreh dich auf den Rücken.
    Als Gillian sich umdrehte, blieb Schmutz vom Boden an ihrem Bauch, ihrer Brust, ihrem Gesicht haften. Die Kälte des Bodens kroch in ihren Körper, ihre Brust hob und senkte sich. Sie bedeckte ihre Scham mit der Hand.
    Nein, sagte Hubert.
    Sie zog die Hand zurück. Langsam beruhigte sie sich. Jetzt lag sie da wie eine Tote. Hubert stand immer noch direkt neben ihr und schaute auf sie herunter. Sie betrachtete die Decke, die Stromleitungen, die zu den hässlichen Leuchtstofflampen führten. Um die Lampen herum hatten sich schmutziggraue Höfe gebildet. Sie versuchte, Hubert in die Augen zu schauen. Nachdem er ihren Blick endlich erwidert hatte, ging er weg. Sie setzte sich auf und sah ihn am Fenster stehen und hinaus in die Dunkelheit starren. Gillian stand auf und putzte sich mit den Händen den Schmutz von Körper und Gesicht. Dann hob sie den Kimono vom Boden auf, zog ihn an und ging zu Hubert.
    Es tut mir leid.
    Er sagte nichts.
    Sie schmiegte sich an ihn, legte ihre Hände auf seine Brust. Als er noch immer nicht reagierte, öffnete sie den Gürtel des Kimonos.
    Es ist gut, sagte sie.
    Ihre Stimme klang falsch, sie sprach einen auswendig gelernten Text. Sie fing an, seinen Hals zu streicheln. Ihr Atem ging schneller, sie achtete darauf, dass ihr Mund nah an seinem Ohr war. Sie wollte erregt sein, wollte, dass er es war. Er löste sich ruckartig von ihr und machte einen Schritt beiseite, ohne sich zu ihr umzudrehen.
    Hör auf!
    Sie schwiegen lange.
    Gefalle ich dir nicht?
    Jetzt drehte Hubert sich endlich zu ihr um und schaute sie an.
    Meine Freundin bekommt ein Kind. In einem Monat ist der Termin.
    Gillian lachte und machte einen Schritt auf ihn zu.
    Das macht doch nichts, wir sind erwachsene Leute.
    Sie spielte eine Rolle in einem schlechten Film. Trotzdem war ihre Lust zum ersten Mal an diesem Abend echt. Sie wollte, dass er sie packte, sie aufs Sofa zerrte. Es wäre wie eine Strafe, die sie erlösen konnte. In diesem Moment klingelte die Eieruhr. Das Klingeln wollte nicht aufhören. Hubert ging zur Tür und öffnete sie.
    Bitte geh.

    Gillians Vater stand am Fenster, obwohl von dort aus nicht mehr zu sehen war, als der Parkplatz für die Ärzte, ein wenig Grün und dahinter biedere Einfamilienhäuser. Gillian hatte in den vergangenen Tagen oft an jenem Fenster gestanden und sich gefragt, wer wohl in den Häusern wohnte, welche Leben sich im Rhythmus der an- und ausgehenden Lampen abspielten, hinter den sich öffnenden und schließenden Vorhängen, wessen Schatten es waren, die über die Gardinen flogen. Aber der Vater schaute nicht hinaus, er hielt den Kopf gesenkt. Seit kaum einer Viertelstunde war er da, und schon war er unruhig. Eine der Schwestern hatte den Verband entfernt, damit er das Gesicht seiner Tochter sehen konnte.
    Gillian trat hinter ihn und blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen. Er hatte extra wegen ihr seine Skiferien unterbrochen und war mit dem Auto aus den Bergen heruntergekommen. Sie war gerührt, aber als sie es ihm sagte, winkte er ab, er habe keine drei Stunden gebraucht.
    Die Ärzte haben gute Arbeit

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