Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
vagen Vorstellungen, die er damit verband, machten ihn eher nervös. Und Ärzte machten ihn nervös. Diese selbsternannten Götter in Weiß. Psychotherapie – das war etwas für die anderen, oder? Er hatte die Angst in den Fluren gerochen. Glaubte er jedenfalls. Rochen Hilflosigkeit und Verzweiflung so? Er hatte das Bild des jungen Mädchens, das im Gang an der Wand gelehnt hatte, vor Augen. Von Kopf bis Fuß angespannt. Arme und Beine voller blutiger Kratzer. Unerreichbar. Seine Tochter war in diesem Alter. Was war mit diesem Mädchen passiert, dass sie sich so von der Welt abwandte?
Und es ärgerte ihn immer noch, dass die Ärztin sein Gespräch mit der Patientin Gabriele Henke unterbrochen hatte. Sie war ganz schön stur. Hoffentlich war sie gut in ihrer Arbeit. Ob sie dem Mädchen helfen konnte?
Das Glockenspiel von Big Ben verscheuchte seine Fragen. Die fettigen Finger abschleckend, klappte Liebetrau sein Mobiltelefon auf.
»Jau.«
Es folgte eine recht einseitige Unterhaltung. Liebetrau grunzte dann und wann etwas in die Muschel, was man mit Wohlwollen als Zustimmung interpretieren konnte. Er legte auf und wandte sich sofort den Resten seines Frühstücks zu.
»Und? Darf man erfahren, was los ist?«, fragte Koster ungeduldig.
»Jau, darf man.« Liebetrau trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Die Spurensicherung ist bald fertig. Du sollst dein Handy einschalten. Die Ärztin hat ihnen einen Albtraum hinterlassen. Tausende Fingerabdrücke. Kein Abschiedsbrief. Es fehlt das Portemonnaie.« Er pausierte. »Und – kein Tagebuch. Interessant, oder?«
»Sagte die Bettnachbarin nicht, die Tote habe am Abend darin geschrieben? Wie weit kann ein Tagebuch kommen, wenn sie sich selbst umgebracht hat?«
»Und wenn nicht?« Liebetrau räusperte sich und zog sich die Serviette durchs Gesicht.
»Das Geld fehlt. Jemand war im Zimmer. Wir müssen den Staatsanwalt informieren und eine Obduktion veranlassen.« Koster dachte kurz nach. »Ich muss mit dem Oberarzt sprechen. Und hoffentlich ist der Therapeut der Toten bereits eingetroffen. Der müsste doch mehr wissen.« Koster zögerte. »Und die Patienten. Mit denen müssen wir wohl auch sprechen.«
»Gruselig«, murrte Liebetrau.
»Hast du dich je gefragt, was in einer Psychotherapie passiert? Ich meine, wie es funktioniert?«
»Nö. Ich bin eher ein schlichtes Gemüt, nehm ich an.« Damit schien für Liebchen das Thema erschöpfend behandelt.
Ob Jasmin und er eine Paartherapie machen sollten? Koster wurde plötzlich klar, dass sie bald über ihre Zukunft entscheiden mussten. Um sich von diesen unbequemen Gedanken abzulenken, langte er nach seinem Mobiltelefon, schaltete es an und wählte die Nummer des diensthabenden Staatsanwalts. Valentin Menzel war ein Mann der frühen Morgenstunden. Bestimmt saß er schon an seinem Schreibtisch und verschanzte sich hinter Aktenbergen.
»Menzel«, blaffte eine tiefe Stimme.
»Torben Koster, Mordbereitschaft. Wir haben einen ungeklärten Strangulationstod in der Psychiatrie des Universitätsklinikums.« Er berichtete kurz den Sachstand. »Es gibt keinen Abschiedsbrief, und wir vermissen das Tagebuch der Toten. Die Patientin scheint Probleme mit einer Medikamentenstudie gehabt zu haben.«
»Ich werde mit dem Richter sprechen und die Obduktion anordnen. Besprechung heute Nachmittag 15.00 Uhr in meinem Büro.«
»Klar …«, setzte Koster an, aber er sprach bereits in die tote Leitung.
*
Wieder gingen Koster und Liebetrau durch die Tür mit der Aufschrift Station 2 und dann den langen Korridor entlang. Wieder dieser Geruch. Rechts und links jeweils vier Türen, dann der große Mittelteil mit Dienstzimmer und Aufenthaltsraum, noch einmal vier Zimmer rechts und links. Das junge Mädchen von vorhin lehnte nicht mehr an der Wand. Koster wusste nicht recht, ob er erleichtert oder enttäuscht war. Hoffentlich ging es ihr gut.
Großformatige Bilder unterbrachen die weißen Wände. Er glaubte eine Serie von Landschaften in fröhlichen Wasserfarben zu erkennen. Sie waren abstrakt, die Formen nur vage angedeutet. Und es gab schwarze Gestalten in einem Meer aus Rot. Düster und verstörend. Kunsttherapie. Davon hatte er gehört. Die Türen waren glanzlos grau und wirkten abweisend. Alle geschlossen. Die Wände des Dienstzimmers waren in der oberen Hälfte aus Glas. Man konnte von außen sehen, wer anwesend war und was derjenige tat. Wie Affen im Käfig, dachte er. Die Tür stand offen und Liebchen räusperte sich lautstark, damit der
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