Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Spiegel nur die Selbstzweifel. Mit einem Lächeln versuchte sie davon abzulenken. Schluss jetzt. Es war wirklich keine Zeit für eine Bestandsaufnahme. Sie musste sich verdammt beeilen.
Im Dienstzimmer der Station 2 waren die Kollegen bereits für die Morgenbesprechung versammelt. Tessa griff nach einem Becher Kaffee und quetschte sich gerade zu Paul Nika auf die Bank, als Oberarzt Neumann in den Raum wehte.
»Wenn ich um Ruhe bitten darf.«
Schwungvoll ließ er seinen Kalender auf den Tisch knallen. Die Gespräche erstarben. In dem kleinen Raum saß ein Teil des Teams dicht gedrängt. Tessa sah in die Runde, ihr Blick stoppte bei Mathilde. Wie hatte sie den Tod von Isabell Drost verkraftet? Sie sah müde aus, dennoch wirkte sie wie ein Fels in der Brandung. Neben ihr saß Holger Buchholz, der Sozialarbeiter der Station. Er studierte intensiv die Sportseiten der BILD -Zeitung. Tessa musste schmunzeln. Die Kollegen zogen Holger immer wieder damit auf, dass er Bildung an den falschen Stellen suchte. Die beiden Assistenzärzte Meißner und Kirschnig sowie der junge Pflegeschüler Philipp komplettierten das Team an diesem Morgen.
»Ich möchte die Teambesprechung dazu nutzen, die traurigen Vorkommnisse des gestrigen Tages zu besprechen und unseren Umgang damit abzustimmen«, fuhr Neumann fort. Er räusperte sich. »Wie Sie wissen, hat sich Isabell Drost gestern Nacht stranguliert. Das war nicht vorauszusehen. Ich bitte Sie alle, entsprechend beruhigend auf die anderen Patienten einzuwirken.« Sein nervöses Räuspern war heute Morgen besonders ausgeprägt. »Wir können in dieser Phase der Duoxepin-Studie keine … äh … Zwischenfälle auf der Station gebrauchen. Die klinische Erprobung soll in den nächsten Wochen abgeschlossen werden. Falls also mehr Beruhigungsmedikamente eingesetzt werden müssen …« Er sah die beiden Assistenzärzte auffordernd an. Die nickten stumm.
Tessa spürte, wie Paul sich zu ihr lehnte. »Gibt es keine Suizidkonferenz?«, flüsterte er fassungslos. Tessa war genauso irritiert. Das übliche Vorgehen war eine Fallvorstellung durch den behandelnden Therapeuten und eine Analyse der Ereignisse. Hätte man etwas besser machen können? Hatte man Hinweise übersehen? Konnte sich das Team von Schuldgefühlen entlasten und die Ängste vor einem weiteren Suizid auf der Station reduzieren? Es war das Gesetz der Serie, vor dem man in der Psychiatrie einen Heidenrespekt hatte. Das Dümmste war, nicht darüber zu sprechen, den Mut zu verlieren. Und was, wenn es gar kein Suizid war?
Tessa hielt es nicht länger aus. »Können wir wirklich sicher sein, dass es Selbstmord war? Ich meine das verschwundene Tagebuch, das Geld, das fehlt …«
»Daran gibt es aus meiner Sicht keinen Zweifel«, wiegelte Neumann ab. »Aber Sie haben recht, es macht einen schlechten Eindruck. Daher erinnere ich Sie an Ihre Schweigepflicht – vor allem gegenüber der Presse. Hat das jeder verstanden?«
»Ich habe noch nicht verstanden. Ich meine, es ist nicht annähernd so klar …«
Der Oberarzt unterbrach sie rüde. »Mir scheint, der Rest des Teams schätzt es anders ein. Aber wenn Sie meinen, können Sie Ihre Version der Kriminalpolizei erzählen. Sie führen die Herren später durch die Station. Fassen Sie sich kurz und sorgen Sie dafür, dass der Stationsablauf nicht gestört wird. Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich.« Sein heftiges Räuspern mündete in beklemmender Stille.
Tessa starrte ihn zornig und schockiert an. Neumann grämte sich nicht über Isabells Tod, sondern darüber, dass seine Studie gestört werden könnte. Sie wollte sich gerade Luft machen, als sie unter dem Tisch Pauls warnenden Händedruck auf ihrem Schenkel spürte. Sie schluckte trocken und blieb stumm.
»So, wenn wir dann weitermachen können … Lassen Sie uns die Termine für diese Woche abstimmen.« Neumann griff nach seinem Kalender und redete weiter.
Doch Tessa bekam gar nicht mehr mit, was er sagte. In ihren Ohren rauschte es. Dieser Angriff war völlig unnötig gewesen. Was war mit Neumann los? Eine Kriegserklärung? Worum, verdammt noch mal, kämpften sie hier? Sie glaubte doch auch an das Medikament. Es wirkte. Genau deswegen musste man davon ausgehen, dass Isabell Drost sich nicht selbst umgebracht hatte. Merkte er denn nicht, dass hier was nicht stimmte? Sie war wütend. Und sie hatte keine Ahnung, was sie ihm getan hatte. Aber sie war entschlossen herauszufinden, was passiert war. Tessa hatte sich einmal
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