Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
ihr nach dem Leben trachtete. Selbst ihre Drogenkontakte waren vergleichsweise harmloser Natur.«
»Kein Dealer, dem sie Geld schuldete? Oder ein verlassener Liebhaber?« Liebchen ließ sich nicht so leicht abschütteln.
»Nicht, soweit ich weiß. Zu ihren Angehörigen hatte sie keinen Kontakt mehr. Die leben irgendwo in Süddeutschland.«
»Wissen Sie von ihrem Tagebuch?«, fragte Koster.
»Frau Drost hat sich viele Gedanken gemacht und die aufgeschrieben. Sie war eher der melancholische Typ. Ich verstehe nicht, warum sie nicht zu Tessa gegangen ist …« Er nahm die Brille ab und fuhr sich erschöpft mit der Hand über die Augen, wie nach einem langen Arbeitstag. Dabei war es nicht einmal elf Uhr. »Wir hätten es kommen sehen müssen … Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Wir kommen sicher noch einmal wieder.« Koster fing den Blick des Psychologen auf und sah die Trauer darin. Als er sich schon zur Tür wandte, hörte er Paul Nika sagen: »Ich werde hier sein, wenn Sie mit mir reden möchten.«
Koster war sich ganz und gar nicht sicher, ob das ausschließlich auf den Fall bezogen war oder ob er es persönlich nehmen sollte.
Im Gang legte er seinem Kollegen die Hand an den Ellbogen.
»Komm, Liebchen, wir machen später weiter. Aus der Psychiatrie läuft uns heute keiner mehr weg, und der Papierkram macht sich auch nicht von alleine. Ich muss hier raus. Mir wird schlecht von diesem Geruch. Warten wir auf die Obduktionsergebnisse.«
»Jau. Wir sehen uns nachher beim Staatsanwalt.« Er nickte Koster aufmunternd zu und machte sich auf den Weg den langen Flur hinunter.
Koster fuhr in den Hamburger Hafen. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit fand er sogar einen Parkplatz. Er wollte in ein kleines Café nahe den Magellanterrassen. Dort saß er mit den backsteingotischen Lagerhauskomplexen der Speicherstadt im Rücken, vor sich die dümpelnden Schuten auf dem Fleet, und blickte in den wolkenverhangenen, aber inzwischen trockenen Himmel. Möwen zogen kreischend ihre Runden. Er atmete die leicht salzige Luft ein und genoss den Wind auf dem Gesicht. Hier unten wehte immer eine Brise. Es war Niedrigwasser, daher hatten die Möwen leichtes Spiel, sich Abfälle aus dem Fleet zu picken. Zum ersten Mal an diesem Tag konnte er entspannen.
Nach einer Zigarette und einem starken Espresso rief er Alexander Clement an. Clement war Professor im Rechtsmedizinischen Institut und sein bester Freund. Alexander war zudem der Einzige, der von seinen Eheproblemen mit Jasmin wusste. Seinem Freund von seinen Sorgen zu erzählen half ihm dabei, sich zu sortieren. Alexander sagte meist wenig dazu, aber was er sagte, war genau richtig.
»Ich habe die Obduktion noch nicht angefangen. Du bist zu früh dran, Torben. Hier ist viel los. Zwei ältere Herrschaften und ein Verkehrsunfall, dann kommt deine Tote. Morgen Vormittag hast du das Ergebnis. Ich bin verabredet, oh ja, und das heißt, ich werde diese heiligen Hallen pünktlich verlassen.«
»Kenne ich sie?«
»Nein. Eine wissbegierige und kluge Studentin. Eine bezaubernde Studentin. Sie steht auf mich.«
»So was gibt es nicht.«
»Weißt du, es gibt ein Leben neben der Arbeit.«
»Eine Studentin ist viel zu jung für dich.«
»Ich bin neurotisch. Ich brauche viel Bestätigung«, sagte er lachend.
»Ruf mich an, wenn du Ergebnisse hast. Und … viel Spaß.« Lächelnd hielt er sein Gesicht in die wenigen Sonnenstrahlen, die es dann und wann durch die dichten grauen Wolken schafften. Tief inhalierte er den Rauch seiner Zigarette.
*
Als er wenige Minuten nach 15.00 Uhr vor dem Büro von Staatsanwalt Menzel eintraf, trabte Liebchen schon ungeduldig vor der Tür auf und ab. Er wirkte sichtlich erleichtert, als er Koster erblickte. Anscheinend bekümmerte ihn die Vorstellung, alleine in die Höhle des Löwen zu müssen. Liebchen war eben sensibler, als seine Statur vermuten ließ. Die adrette Vorzimmerdame jenseits ihrer besten Tage winkte sie sofort durch. Koster klopfte an die angelehnte Tür.
Menzel war ein Riese. Selbst hinter seinem Schreibtisch. Alles an ihm war überdimensioniert. Und doch wirkten seine Gesichtszüge so fein und freundlich, dass die Enttäuschung umso größer war, wenn man herausfand, dass er gänzlich ohne Charme und Humor auf die Welt gekommen war. Man sagte, dass er ein Pedant war, ein Krümelspalter, ein unermüdliches Arbeitstier. Mit Mitte vierzig war er bereits weit oben in der Hierarchie angekommen. Gerüchte handelten ihn als nächsten
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