Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Pfleger, der sich auf einem Stuhl fläzte und gelangweilt in eine Patientenakte schrieb, ihn bemerkte.
»Ah, da sind Sie ja.« Die Kiefer des jungen Mannes mahlten auf seinem Kaugummi. Er sprang auf. »Ich bin Pflegeschüler Philipp und soll Sie zu unserem Oberarzt chauffieren.« Sein Ton war Koster eine Spur zu flapsig. Aber er wollte nicht vorschnell urteilen.
»Zuerst müssen wir mit dem Arzt der Toten sprechen. Also der, der zuständig war für die Untersuchung oder Behandlung oder wie man das nennt.« Liebchen hatte spürbar Mühe, den richtigen medizinischen Jargon zu finden.
»Die Drost wird von unserem Stationspsychologen, ähm, wurde von Doktor Nika behandelt. Ich muss checken, ob er da ist.« Er wandte sich ab und tippte eine kurze Nummer ins Telefon. Am anderen Ende wurde anscheinend sofort abgenommen, denn augenblicklich nuschelte er in den Hörer: »Die Polizei steht hier am Check-in.« Nach einer kurzen Pause nickte er und legte auf. »Mir nach.« Er drängelte sich an ihnen vorbei und latschte den Flur hinunter.
Koster fing Liebchens irritierten Blick auf, zog belustigt eine Augenbraue hoch und zuckte mit den Schultern. Sie folgten dem Pflegeschüler bis ans Ende der Station. Dieses Mal hielten sie an der Tür rechts neben dem Büro der Ärztin von heute Morgen. Der Pflegeschüler donnerte gegen die Tür, drehte sich wortlos um und ging.
»Wie ist der denn drauf?«, murmelte Liebetrau.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und der Mann, der Koster nun gegenüberstand, sah genau so aus, wie er sich den typischen, freundlichen »Onkel Doktor« vorstellte. Stationspsychologe Paul Nika hatte graues Haar, ein rundes, rosiges Gesicht und einen gemütlichen Bauchansatz. Hinter seiner randlosen Brille strahlten gütige Augen. Koster schätzte ihn auf Ende fünfzig und konnte nicht anders, als ihn ehrlich anzulächeln. Nika erwiderte das Lächeln und bat sie mit einer einladenden Geste in sein Therapiezimmer.
Koster wunderte sich, dass auch dieses Büro eine eigene Handschrift trug. Er hatte in einem Krankenhaus mehr Bürostandard und weniger Persönliches erwartet. Wie seine Kollegin hatte auch Paul Nika seine eigenen Möbel mitgebracht. Dennoch lagen Welten zwischen den beiden Büros. Hier herrschte asiatisches Flair: Fremde Schriftzeichen an der Wand, Buddhas in allen Formen, Farben und Größen auf dem Schreibtisch und ein Tablett mit zerbrechlich aussehendem Teegeschirr auf einer Anrichte. Zwei Wände waren dunkel gestrichen. Nicht unangenehm. Er konnte sich gut vorstellen, dass man in diesem behaglichen Raum vor der harten Realität flüchten konnte. Patient und Therapeut gleichermaßen.
»Wie Sie sicher gehört haben, ermitteln wir im Todesfall Ihrer Patientin Isabell Drost. Können Sie uns weiterhelfen?«, fragte Koster.
»Entschuldigen Sie, dass ich korrigiere: Ich war nur kurz der Therapeut von Frau Drost. Dann hat meine Kollegin Doktor Ravens die weitere Behandlung übernommen. Sie sollten mit ihr sprechen, wenn sie morgen wieder auf die Station kommt.« Nika sprach langsam und ruhig. Unwillkürlich wirkte sich das auf sein Gegenüber aus. Man konnte gar nicht anders, als sich seinem Tempo anzupassen. »Ich bin erschüttert über diesen Suizid. Es passiert leider immer wieder, dass Patienten sich in der Psychiatrie das Leben nehmen. Sie kommen ja zu uns, weil sie glauben, ihre Gefühle nicht mehr aushalten zu können. Aber bei Frau Drost habe ich nicht damit gerechnet.« Er seufzte. »Offensichtlich eine Fehleinschätzung. Ich hoffe, Tessa macht sich nicht zu viele Vorwürfe. Für einen Therapeuten ist das nicht einfach. Es ist … es macht mich sehr traurig.«
»Sie halten es also für Selbstmord?«, hakte Koster nach. Er hatte nicht mit diesen offenen Worten gerechnet.
»Wer sollte sie umbringen wollen? Und dann in einem Krankenhaus. Wir sind hier, um unser Möglichstes zu tun, unseren Patienten zu helfen, nicht um sie zu töten.«
»Es muss ja niemand vom Personal gewesen sein.«
»Die meisten Patienten haben genug mit sich selbst zu tun. Sie verschwenden keine Gedanken an andere.« Er lächelte traurig.
Koster fragte sich, ob er wirklich so naiv war oder nur ein guter Schauspieler. Er tendierte zu Ersterem.
»Und jemand von außerhalb?«, fragte Liebchen.
»Theoretisch möglich. Allerdings wäre hier ein Fremder mitten in der Nacht aufgefallen. Und aus welchem Grund? Wir haben Frau Drost oft in der Visite erlebt, und da gab es nichts, was darauf schließen ließe, dass jemand
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