Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
versprochen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Suizide zu verhindern. Dann würde sie doch nicht anfangen, bei einem Mord wegzusehen. Noch dazu an ihrem Arbeitsplatz. Da hatte er bei ihr den falschen Knopf gedrückt. Den absolut falschen.
Wieder spürte sie Pauls Blick. Sie erwiderte ihn entschlossen und streckte den Rücken. Ein amüsiertes Lächeln huschte über seine Lippen.
Neumanns »Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich«, ließ sie immer noch vor Wut kochen. In ihrem Büro nahm sich Tessa eine Patientenakte und blätterte lustlos darin. Sie hatte noch zehn Minuten bis zur nächsten Therapiesitzung und hätte sich vorbereiten müssen. Stattdessen drehte sie ihren Stuhl Richtung Fenster und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. In Gedanken war sie sowohl bei der gerade beendeten Teamsitzung als auch bei diesem Koster. Warum beschäftigte sie sich mit dem Kommissar? Das Gespräch mit ihm gestern ging ihr in allen Einzelheiten durch den Kopf. Sie hatte die Spannung im Raum fast körperlich gespürt. Er beobachtete gut und wertete nicht. Das war ihr sympathisch. Und seine Stimme klang warm … Andererseits waren einige Bemerkungen ihr gegenüber richtig grob gewesen. Was sollte das?
Sie nahm eine ihrer Muscheln von der Fensterbank in die Hand. Es war eine kleine, vom Meerwasser nahezu blank gewaschene Herzmuschel. Sanft und glatt. Tessa liebte es, an den Nord- oder Ostseestränden nach besonders schönen Steinen und Muscheln Ausschau zu halten. Sie hatte auch wundervolle Donnerkeile gefunden. Stille Zeugen der Naturschönheit. Ihr Gegenpol zum Wahnsinn des Alltags.
Vermutlich konnte Kommissar Koster sie nicht leiden. Warum sonst hätte er ihr so spöttisch »Wiedersehen, Frau Doktor« hinwerfen sollen? Wenn nur seine Stimme nicht so warm gewesen wäre.
Sie würde heute Abend darüber nachdenken. Nun beanspruchte Kiana Chavari ihre ganze Aufmerksamkeit. Tessa öffnete die Akte und fing an, Neumanns Bericht über die neue Patientin aus Afghanistan zu lesen. Doch ihre Gedanken schweiften erneut ab.
Magnus Neumann entwickelte sich zum Problem für sie. Er war seit neun Monaten auf der Station, zuständig für die große Studie des neuen Antidepressivums. Wenn sie ehrlich war: Sie mochte ihn nicht. Er war kein Vorbild. Er war kalt. Er versuchte nicht zu verstehen. Nahezu voyeuristisch schien er sich am Leid der Patienten zu ergötzen. War sie fair? Er war ein guter Forscher. Außerdem hatte er sich vor sie gestellt, als vor ein paar Wochen der Ehemann einer Patientin seinem Ärger lautstark Luft gemacht hatte. Er hatte herumgeschrien, dass es seiner Frau immer noch schlecht ginge. Tessa wäre offensichtlich unfähig, ihr zu helfen. Neumann hatte den Mann beruhigt und ihm erklärt, dass Psychotherapie nun mal keine Autowerkstatt sei, in der man nur an der richtigen Schraube drehen musste und alles sei wieder gut. Immerhin. Trotzdem, sie konnte ihn nicht respektieren. Und nun dieser offene Angriff. Ihr Blick blieb an einem Donnerkeil hängen.
Schluss jetzt, die Patientin wartete. Also: Was hatte Neumann über sie geschrieben?
Die nach eigenen Angaben 18-jährige Kiana Chavari kommt in Begleitung ihres älteren Bruders zur Aufnahme. Dieser ist während des ganzen Gesprächs anwesend und berichtet überwiegend. Kiana Chavari schaut zunächst stumm zu Boden, bringt sich später stockend ins Gespräch ein. Beide sprechen gut Deutsch. Die Mutter sei Deutsche gewesen.
Der Bruder beschreibt in aller Ausführlichkeit die Ängste seiner Schwester. Sie leide unter Albträumen. Angstanfälle würden mehrmals täglich auftreten und seien von starken Symptomen wie Zittern, Übelkeit und Schwindel begleitet. Er könne ihr nicht helfen, versuche nur in ihrer Nähe zu bleiben. Ohne ihn gehe sie nirgendwohin, er sei ihr ständiger Begleiter. Die Patientin antwortet erstmals auf direkte Nachfrage: »Ich erlebe immer wieder diese Tage. Ich kann die Geräusche und die Bilder nicht loswerden.« Sie fühle sich hilflos und ausgeliefert. Genauso belastend seien ihre Träume, in denen immer wieder Erinnerungen an Tote aufkommen. So erlebe die Patientin selbst einen sonnigen Tag als unangenehm: »Ich hasse die Sonne. Sie erinnert mich an Mazar-i-Sherif, dort schien immer die Sonne.«
Der Bruder erzählt, dass sie aus Afghanistan geflüchtet seien, wo ihre ganze Familie ermordet worden sei. Die Schwester habe Angst vor Menschen. Höre sie, dass jemand hinter ihr geht, befürchte sie, dass ihr jemand etwas antun wolle.
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