Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
wieder auf das Gespräch.
»Na, ich hoffe nicht, dass Sie das kennen.«
Sie lächelte Liebetrau an. Aha, Liebchen bekam also ein richtiges Lächeln.
»Diese Art Freudlosigkeit ist für die Betroffenen schwer auszuhalten. Frau Henke lag nachts wach und grübelte, schlief tagsüber und hatte keine Kraft mehr, den Haushalt zu erledigen. Sie hatte seit Langem keine Freunde mehr. Sie war traurig und verzweifelt. Einerseits. Andererseits leer und hoffnungslos.« Sie hielt einen Moment inne. »Sie fasste den Plan, sich das Leben zu nehmen. Sie wollte sich von einer Brücke stürzen. Nur die Tatsache, dass ein Passant die Polizei informierte, hat das verhindert.«
»Ist verzweifelt besser als hoffnungslos?« Koster wollte mehr wissen. Die Therapeutin hatte es geschafft, in ihm ehrliches Interesse zu wecken, obwohl ihm diese Seelenklempnerei noch nie ganz geheuer gewesen war.
»Nicht besser. Vielleicht aktiver. Resignation ist immer destruktiv und gegen sich selbst gerichtet. Frau Henke hat schon einmal einen Suizidversuch mit Tabletten unternommen. Damals war ihre Tochter noch klein.«
»Sie wollte ihr Kind allein zurücklassen?« Liebchen klang erbost.
»Es gab ja noch einen Vater. Aber über den Vater ihrer Tochter spricht sie nicht. Sie hat damals in Dresden gewohnt – auf den Arztbericht warte ich immer noch. Frau Henke ist verschlossen. Sie grübelt und schweigt. Ich nehme an, sie fühlt sich wertlos und glaubt, dass niemand ihr helfen kann.«
»Und? Können Sie ihr helfen?«, fragte Liebchen.
»Am Tiefpunkt kann man nicht tiefer fallen – zumindest theoretisch.« Ihre Stimme klang sanft. »Selbsttötung ist kein Ausweg. Es ist die Entscheidung, die auf der Überzeugung basiert, dass es keinen anderen Weg mehr gibt. Wir versuchen, ihr die Türen zu zeigen. Öffnen muss sie sie selbst.«
Liebchen nickte nachdenklich. Koster dachte an Jasmin. Niemand sagte etwas.
»Und sie bekommt den neuen Wirkstoff aus der Medikamentenstudie«, unterbrach die Ärztin die Stille. »Wie auch Isabell Drost. Wir hoffen, dass das Duoxepin bald anschlägt.« Sie verzog hilflos den Mund.
Es klopfte.
Koster beeilte sich zu fragen, ob sie bei Frau Henke irgendetwas beachten müssten.
»Nein, seien Sie einfach freundlich zu ihr.«
Die blasse Frau mit den langen blonden Haaren und dem ausdruckslosen Gesicht, die er bereits gestern kennengelernt hatte, kam grußlos herein. Er lächelte ihr deshalb aufmunternd zu und bot ihr einen Stuhl an.
»Ich hoffe, Sie haben sich erholen können?«, begann er.
»Nein«, antwortete sie mit verkniffenen Lippen.
Kein besonders geschickter Einstieg, das musste er ja selbst zugeben. Und dennoch … »Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
»Ich hab nichts getan. Was soll ich hier?«
Nach knapp fünfundzwanzig Jahren als Polizist wusste Koster, dass Menschen, die sich unverhofft mit der Polizei konfrontiert sahen, sich als Erstes fragten, was sie falsch gemacht hatten. Aber warum wollte sie nicht helfen? Andererseits war ihm auch bewusst, dass die starken Gefühle, denen Zeugen von Gewalttaten ausgesetzt waren, ihr Erinnerungsvermögen massiv behindern konnten. Am besten versuchte er sie behutsam in die Erinnerung und in einen harmloseren Kontext zurückzuführen. Das wirkte bei den meisten Zeugen.
»Wann sind Sie morgens aufgewacht?«
»Isabell stand immer vor mir auf. Sie ging Duschen, und ich hörte ein bisschen Radio.«
Koster nickte, um sie zum Reden zu ermuntern.
»Frühstück gibt es ab acht Uhr. Wir treffen uns eigentlich alle im Aufenthaltsraum.«
»Wer fehlte?« Koster sah, wie die Wangen der Patientin zu glühen begannen. Sie senkte schnell den Kopf und knetete ihre Hände.
»Wie kommen Sie darauf, dass jemand fehlte?«
»Ist nicht schlimm. Wer fehlte?«, fragte Koster.
»Es fällt eben auf, wenn David fehlt. Er bringt uns zum Lachen«, flüsterte sie.
»Haben Sie ihn später gesehen?«, fragte er.
»Der Tag lief wie immer.«
»Sie sagten gestern, Frau Drost habe in ihr Tagebuch geschrieben, und Sie seien dann eingeschlafen?«, hakte Koster nach.
Sie nickte stumm.
»Erinnern Sie sich, wovon Sie aufgewacht sind?«, fragte er.
»Vielleicht war er im Zimmer – und ich … ich hatte keine Ahnung. Es macht mir Angst.« Sie sprach mehr zu sich als zu ihm oder den anderen.
»Was haben Sie gesehen?« Koster musterte die Zeugin, der sichtbar unwohl in ihrer Haut war. Sie schnaufte durch die Nase und wirkte, als quälte sie die Erinnerung.
»Ein Schatten? Es war Licht im Zimmer.
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