Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
ergriffen war. Wie dieses wunderbare Wesen über die Bühne schwebte. Sie tanzte so voller Anmut, und ihr Partner wirbelte sie durch die Luft, als wäre sie eine Feder. Dann der tosende Applaus. Es war wunderbar. Erst als er sie nach der Vorführung in ihrer Garderobe suchte, erfuhr er, dass sie die Treppe von der Bühne in den Garderobenbereich hinuntergestürzt war. Eine Unachtsamkeit. Eine lächerliche Sekunde war sie abgelenkt gewesen. Da sollte doch ein Eisbeutel auf dem Knie reichen, oder? Doch es stellte sich heraus, dass das Knie für immer geschädigt blieb.
Als Jasmin kurz darauf schwanger wurde, freute er sich unbändig. Seine Tochter Linda war heute schon sechzehn. Zwei Jahre später kam Leon zur Welt, und ihr Familienglück hätte perfekt sein können. Aber Jasmin war eine Künstlerin. Eine zum Stillsitzen verdammte Tänzerin. Die Rolle der Mutter und Ehefrau hatte sie nicht ausgefüllt, und sie hatte sich nie richtig damit anfreunden können. In den folgenden Jahren hatte sie sich mehr und mehr in sich selbst zurückgezogen. Das hatte sie zu der Frau gemacht, die morgens vor ihm aufstand und abends nicht auf ihn wartete. Der resignierte Schatten der Frau, die sie vor langer Zeit gewesen war.
Welche Fehler hatte er gemacht? Er wollte sie beschützen. Er wollte Verständnis für sie aufbringen. Um der Kinder willen. Doch mehr und mehr musste er zugeben, wie einsam er geworden war.
»Entschuldigung, aber Sie hören mir ja gar nicht zu, Herr Kommissar«, sagte Kurt Mager irritiert. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Koster zuckte zusammen. Mager hatte recht. Er riss sich zusammen, schüttelte seine Erinnerungen mit einem Seufzer ab und fragte den Patienten, ob ihm etwas zur gestrigen Nacht einfiele.
»Das Einzige, was mir noch … Aber das ist sicher unwichtig.«
Koster zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Als ich gerade zum Duschen wollte, sah ich den Pflegeschüler auf dem Stationsgang. Er hatte wohl Nachtdienst. Ich bin erst wieder zurück ins Zimmer. Er sollte mich nicht sehen.«
Als Mager kurz darauf ging, verbog er sich, um die Türklinke mit dem Ellenbogen zu öffnen.
»Tut mir leid. Auf Wiedersehen.« Ein Blick wie von einem geprügelten Hund.
»Warum entschuldigt er sich dauernd?« Liebetrau wandte sich an die Ärztin, nachdem die Tür zugefallen war.
»Herr Mager hat Zwänge. Und er schämt sich dafür. Er weiß, dass es Unsinn ist, aber die Angst ist größer.«
»Das verstehe ich nicht. Geht es ihm so schlecht?«, fragte Liebetrau nach.
»Sein HZI ist sehr hoch, ja, es geht ihm schlecht.«
»Sein HZI ?«, echote Liebetrau. »Ist das ansteckend?«
»’tschuldigung, wir Psychiater stehen auf Abkürzungen.« Sie lächelte ihn an. » HZI bedeutet Hamburger-Zwangs-Inventar. Ein Fragebogen, der Zwänge misst. Kurt Mager hat seinen Job verloren. Er hat es seiner Frau verschwiegen. Den Tag vertrödelt, so getan, als sei alles in Ordnung. Schulden gemacht. Ihm wuchs alles über den Kopf. Dann war er einmal in einem Sex-Kino. Seither hat er Angst, sich mit Aids angesteckt zu haben. Nur waschen hilft.«
»Soll er einen Aids-Test machen«, meinte Liebetrau trocken.
»Hat er. Aber er kann seine Phantasien nicht einfach abschütteln und zum Alltagsgeschehen übergehen. Vom Kopf her weiß er, dass er sich nicht angesteckt haben kann. Aber er fühlt sich weiterhin bedroht. Er findet nur kurz Entspannung, wenn er sich wäscht, wenn er vermeidet, irgendetwas anzufassen, an dem er sich entweder selber anstecken könnte oder andere ansteckt. Er hält sich für eine Gefahr. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass er vermieden hat, irgendetwas zu berühren?«
»Deswegen also«, sagte Koster.
»Das ist doch schizophren. Er weiß, dass es Unsinn ist, und tut es trotzdem?«, fragte Liebetrau und schüttelte den Kopf.
»Schizophrene sind immer überzeugt von ihren wahnhaften Gedanken und Ideen. Sie meinen, böse Mächte steuern sie. Sie erkennen nicht, wie wirklichkeitsfremd das ist. Wollte man ihnen die Wahnvorstellungen ausreden, würden sie uns für verrückt halten.« Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: »Zwangspatienten leiden unter ihren Befürchtungen. Sie fühlen sich schuldig. Die Frau von Kurt Mager ist ausgezogen, nachdem sie alles herausgefunden hat. Die Kinder hat sie mitgenommen. Vorläufig. Er gibt sich die Schuld. Und so versucht er sich reinzuwaschen. Mehr als zweihundert Mal am Tag.«
*
Alle Blicke waren auf die Tür gerichtet, als Koster und Liebetrau das Besprechungszimmer des
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