Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Ich glaube, die Tür war offen. Ich war halb im Schlaf.«
»Ein Schatten?« Koster lehnte sich vor und reichte ihr ein Taschentuch. Sie nahm es wortlos.
»Ich weiß nur, dass ich Isabell sah. Ich musste aufs Klo.«
»Wissen Sie, wie lange Sie vor dem Badzimmer gesessen haben?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er fragte sich, wieso sie still vor der Leiche ihrer Freundin gesessen hatte. Würde nicht jeder sofort anfangen zu schreien?
»Warum haben Sie nicht um Hilfe gerufen?«
»Damit er zurückkommt?«
»Wer? Vor wem haben Sie Angst?« Koster rutschte auf seinem Sessel nach vorne.
»Sie hatte ihr Nachthemd an. Isabell hätte sich doch richtig angezogen. Jemand muss ihr das angetan haben.« Sie blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. Die Angst umgab sie wie eine unsichtbare Aura. Er meinte, sie förmlich riechen zu können. So kam er nicht weiter.
»Ich danke Ihnen für den Moment.« Koster drückte kurz ihre Hand.
Lag es an ihm oder an diesem ungewöhnlichen Ort? Koster merkte, dass er hier mit seiner üblichen Zeugenbefragung nicht zum Zuge kam. »Wenn jemand im Zimmer war, könnte das die Unordnung und das fehlende Portemonnaie erklären. Sogar das verschwundene Tagebuch«, sagte er, nachdem Gabriele Henke gegangen war. Tessa Ravens stand an ihrem Schreibtisch gelehnt und beobachtete ihn und Liebchen still.
»Nur weil die Tür ein bisschen offen stand?« Liebchen war nicht so schnell zu überzeugen. »Vielleicht hat die Nachtschwester sich geirrt, und die Tür war nicht zu, sondern nur angelehnt. Sie hat in viele Zimmer geschaut. Wie will sie die eine Tür von der anderen unterscheiden? Nein, das reicht mir nicht.«
Die Therapeutin mischte sich ein. »Die Angst behindert ihre Erinnerung.«
Das war auch seine Einschätzung. Koster freute sich, dass sie seinen Eindruck teilte, und nickte zustimmend.
»Vielleicht ist sie traumatisiert. Das wissen wir erst in ein paar Wochen. Bis dahin sind ihre eigenartigen Reaktionen vollkommen normal.« Sie schien zu zögern. »Sie sollten mit einem unserer anderen Patienten sprechen. Er duscht gerne nachts im Bad auf dem Flur. Vielleicht kann er sich erinnern, ob die Tür offen stand?«
Koster fing ihren Blick auf. Zum ersten Mal schien er ihn zum Nachfragen einzuladen. Er fühlte ein kurzes Ziehen in der Magengegend.
»Bitte«, sagte er.
Der korrekt in Hemd und Anzug gekleidete Patient, der wenig später das Zimmer betrat, bedachte die Hand, die Koster ihm hinstreckte, nur mit einem bedauernden Lächeln. Er zog sich mit dem Fuß einen Stuhl heran, setzte sich gerade hin und schaute erwartungsvoll in die Runde.
»Herr Mager, Doktor Ravens hat uns berichtet, dass Sie nachts das Bad auf dem Stationsflur benutzen. War das auch gestern Nacht der Fall?«, fragte Koster.
»Das Bad im Flur ist sehr viel ordentlicher. David hält überhaupt keine Ordnung in unserem Bad.« Leiser ergänzte er: »Und ich wollte David nicht stören.«
»Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?«
»Nein, alles wie immer: Das Bad zu kalt und zu wenig heißes Wasser.« Er schickte einen entschuldigenden Blick in Richtung der Therapeutin.
»Wie war Ihr Verhältnis zu Isabell Drost?«, fragte Koster.
»Wie meinen Sie das?«
»Wie verstehen Sie es denn?«
»Sie müssen Ihre Frage präzise stellen. So klingt es, als ob wir ein intimes Verhältnis hatten.« Seine Stimme klang streng. »Ich habe gerade wirklich andere Probleme, als die Reste meiner Ehe in Schutt und Asche zu legen, indem ich ein Verhältnis mit einer depressiven, Drogen konsumierenden Mitpatientin beginne. Ich löse meine Konflikte, indem ich mich selbst ins Unglück stürze. Immer noch besser, als Unglück über meine Familie zu bringen, oder?«
Koster stutzte. Konnte man so viel Distanz zu seinen Problemen haben und dennoch keine Lösung finden? Er musste unwillkürlich an Jasmin denken und daran, wie sie gewesen war, als sie sich kennengelernt hatten.
Er hatte sich sofort in ihre unbändige Energie und ihre fließenden Bewegungen verliebt. Sie tanzte damals im John-Neumeier-Ballett, und er hatte gerade in den Kriminaldauerdienst gewechselt. Jede freie Minute verbrachten sie zusammen. Er zeigte der jungen Berlinerin Hamburg, und bald konnten sie sich ein Leben ohne den anderen nicht mehr vorstellen. Die schnelle Hochzeit war da nur konsequent.
Dann ihr Unfall hinter der Bühne. Er war im Publikum, als sie das Pas de deux des Brautpaares aus Giselle tanzte. Er erinnerte sich genau: Wie er vor lauter Stolz regelrecht
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