Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
verlorenen Jahre. Du bist so feige.« Ihre Stimme zitterte. Sie straffte die Schultern und bekam ihre Tonlage wieder in den Griff. »Du musst mich endlich zur Kenntnis nehmen, hörst du? Ich habe mit Isabell darüber gesprochen.« Sie fing an zu weinen. »Die arme Isabell. Warst du bei uns im Zimmer?«
Am anderen Ende der Leitung schrie jemand, jedenfalls konnte Brömme erstmals Laute hören. Gabriele Henke ließ sich davon nicht beeindrucken. »Ja, ja, schon gut. Isabell hat gesagt, du musst bezahlen. Für mich. Für unsere Tochter. Du hast genug Geld. Ich will es endlich besser haben. Ich wollte dir nie schaden, aber ich bin die Mutter deines Kindes – vergiss das nicht.«
Also der Exmann, dachte Brömme. Klang nicht so, als ob der mit stolzgeschwellter Brust seinen Vaterpflichten nachgekommen wäre.
Er spähte zu ihr hinüber. Gabriele Henke nickte. »Gut, bis nachher. Ich werde da sein. Enttäusche mich nicht.«
Das Gespräch war beendet.
Er duckte sich zur Seite, aber das war unnötig, sie hatte ihn nicht bemerkt.
*
Tessa saß in ihrem Büro vor einer Schale Milchkaffee und dachte über die bevorstehenden Aufnahmegespräche nach. Sie hoffte, dass heute nicht zu viele neue Patienten kämen, denn das würde ihren ganzen Tagesplan durcheinanderwerfen. Es klopfte. Katharina Waag stand in der Tür. Die 18-Jährige tippelte von einem Fuß auf den anderen und sah Tessa schüchtern an. Diese Standunruhe könnte eine unerwünschte Nebenwirkung des Medikaments sein, dachte Tessa. Sie würde die Medikation des jungen Mädchens überprüfen müssen.
»Kann ich kurz mit Ihnen quatschen?«
»Aber nur kurz, ich muss mich um die Neuaufnahmen kümmern. Komm rein.«
»Ich komme wegen Isabell.« Sie wippte wieder von einem Fuß auf den anderen, würgte an ihrem nächsten Satz. »Ich glaub, ich hab Mist gebaut.«
Tessas Neugier war geweckt. Sie stand hinter ihrem Schreibtisch auf und lehnte sich gegen die Fensterbank.
»Sie dürfen es nicht den Bullen sagen, nur Ihnen zeige ich es. Klar? Wenn Sie was erzählen, streite ich alles ab.«
»Immer mit der Ruhe. Ich weiß ja gar nicht, worum es geht. Erzähl erst mal weiter«, versuchte Tessa sie zu beruhigen.
»Es geht um das Zeug, das ich manchmal so schreibe. Ich meine, die anderen sind ziemlich gaga hier, nur Isabell verstand meine Texte.«
Tessa nickte ihr aufmunternd zu.
»Also, das da hab ich Isabell vor drei Tagen gegeben. Wollte nur mal hören, was sie sagt.« Sie kramte einen zerknitterten Zettel aus ihrer Jeanstasche. »Es gefiel ihr. Echt. Sie hat auch Geschichten in ihr Tagebuch geschrieben. Aber ich hab doch nicht geahnt, dass sie … dass sie es dann auch tut. Das konnte ich nicht wissen, oder?« Sie hielt Tessa zitternd das Papier hin.
Du stehst vor dem Spiegel, das Kind ist nicht da.
Das Leben war schön, bis er dich sah.
Dein Schrei bleibt stumm, dein Leiden still.
Der Druck steigt stetig, weil er es so will.
Das Messer ist scharf, fährt glatt durch die Haut.
Nie willst du ihm nah sein, nie seine Braut.
Es dauert nicht lang, der Schmerz tut dir gut.
Mach einfach weiter, hab noch mehr Mut.
Nur wenig tiefer musst du noch schneiden.
Dann brauchst du nicht mehr zu leiden.
»Bin ich schuld?« Die ängstlich zitternde Stimme holte Tessa in die Realität zurück.
»Mein Gott, Katharina … es ist … Nein, du bist nicht schuld.«
Das junge Mädchen stürzte auf sie zu und schmiegte sich in ihre Arme. Tessa war für einen kurzen Moment erschrocken, umarmte sie dann aber ebenso fest und streichelte ihr Haar. »Es geht nicht um Schuld. Aber ich möchte mit dir über deine Texte sprechen. Kannst du mehr Gedichte zur nächsten Sitzung mitbringen?«
Sie wand sich aus Tessas Armen. »Ich verzieh mich dann mal.« Plötzlich war sie wieder der unnahbare und verschlossene Teenie und verschwand.
Tessa kam die Sehnsucht des Mädchens seltsam vertraut vor. Die Liebe, die sie nie erfahren hatte. Katharina Waag war ein einsames Mädchen. Als uneheliche Tochter einer Prostituierten wurde sie schon seit ihrer Geburt von Pflegestelle zu Pflegestelle verschoben. Mit drei Jahren nahm ein kinderloses älteres Ehepaar sie bei sich auf, und endlich sollte alles besser werden. Aber schon ein Jahr später folgte ein älterer Pflegebruder und eroberte den Prinzenthron. Er war der Sonnenschein der Familie, bekam die ungeteilte Aufmerksamkeit der Pflegeeltern. Katharina geriet in den Hintergrund. Schon in der Grundschule begannen die Schwierigkeiten. Sie fing an, die
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