Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
anderen Kinder zu beklauen, um sich in der Pause etwas Süßes kaufen zu können. Taschengeld bekam sie nicht. Erst als man feststellte, dass sie außergewöhnlich gut Volleyball spielte, bekam sie Anerkennung – von ihrer Pflegefamilie und den Mädchen ihrer Klasse. Sie schaffte sogar den Sprung auf die Realschule.
Doch dann erlitt der Pflegevater einen schweren Schlaganfall. Katharinas Pflegemutter war völlig überfordert, griff zum Alkohol, lag schließlich nur noch mit ihrer Schnapsflasche im Bett. Aus panischer Angst, in ein Heim zurückzumüssen, übernahm Katharina den Haushalt. Sie vernachlässigte ihr Volleyballtraining und versuchte, nach außen die heile Welt zu spielen. An ihrem dreizehnten Geburtstag meldete sich überraschend ihre leibliche Mutter. Erschöpft und voller Hoffnung auf ein besseres Leben, zog Katharina zu ihr. Dass das ein fataler Fehler war, erkannte sie zu spät. Als der neue Freund der Mutter begann, das Mädchen sexuell zu missbrauchen, wohnte sie gerade mal zwei Monate bei ihnen.
Mit ihren achtzehn Jahren war sie depressiv, verletzte sich mit Rasierklingen, trank übermäßig viel Alkohol und hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich.
Tessa griff nach der Patientenakte von Katharina Waag und las den letzten Eintrag, den sie gemacht hatte:
Die frühe emotionale Instabilität, die die Patientin in Pflegeheimen und der Pflegefamilie erfuhr, führten zu Bindungsstörung, Selbstunsicherheit und gestörter Identitätsentwicklung. Keine Beziehungsperson konnte der Patientin dauerhaft emotionalen Halt bieten. Sie erfuhr kaum Möglichkeit zu erlernen, wie man Emotionen reguliert, Selbstfürsorge aufbaut und sich um soziale Kontakte kümmert. In der demütigenden sexuellen Gewalterfahrung hat sie »gelernt«, dass sie nichts wert ist, niemand ihre Grenzen und ihre körperliche Integrität respektiert. Sie ist misstrauisch, erwartet nichts Gutes von ihren Mitmenschen und lässt niemanden an sich heran.
Ein Schicksal, so beschissen wie viele hier, dachte Tessa. Sie wollte gerade einen Satz zu dem Gedicht der Patientin aufschreiben, als ein Klopfen an der Tür ihre Gedanken unterbrach.
David Brömme. Er müsse kurz mit ihr sprechen. Und er kam auch direkt zum Punkt: »Isabell wollte tot sein. Sie war der unglücklichste Mensch, den ich je kennengelernt habe.«
»Wie kommen Sie darauf?« Tessa wusste, dass das die Frage war, die er hören wollte. Sie wusste aber nicht, ob er von Isabells Plänen gewusst und dennoch nichts gesagt hatte. »Hat sie mit Ihnen über ihre Absichten gesprochen?« Ihr wurde ganz flau im Magen.
»Nein, sie hätte nie mit mir gesprochen. Damit hätte sie mich in die Lage eines Mitwissers gebracht.«
So lange sprach er selten an einem Stück. »Es klingt, als ob Sie Isabells Weg akzeptiert haben?«
»Sie hatte ein Recht auf freie Wahl. Sie hat es bestimmt in ihrem Tagebuch erklärt. Haben sie es nicht gelesen?«
Tessa runzelte die Stirn. »Das Tagebuch ist verschwunden.«
»Ich dachte, Sie wüssten vielleicht, wo es ist.«
»Nein, warum fragen Sie?«
Brömme sah sie nur enttäuscht an, drehte sich um und ging. Tessa starrte ihm konsterniert nach. Was wollte er eigentlich? Kam heute jeder in ihr Büro spaziert, knallte ihr Schuldgefühle und Vorwürfe auf den Tisch und rannte wieder raus?
*
In den folgenden Stunden war sie vollauf damit beschäftigt, als diensthabende Ärztin alle Patienten aufzunehmen, die ohne Anmeldung in der Klinik erschienen. Sie lief gerade mit einer neuen Patientenkarte zurück in ihr Zimmer, als sie Paul auf dem Gang traf.
»Du siehst angeschlagen aus«, sagte er.
»Ach ja!« Sie seufzte. »Heute will sich alles, was die WHO an Diagnosen hergibt, bei mir vorstellen.«
»Verstehe.« Paul grinste.
Tessa eilte zurück in ihr Büro. Angefangen hatte es in der Früh mit einer schüchternen Frau, die solche Angst vor Menschen hatte, dass es ihr nie gelungen war, Freundschaften zu schließen. Alles war ihr peinlich, und sie war felsenfest überzeugt, dass andere schlecht über sie dachten. Der klassische Fall einer sozialen Phobie. Gestern hatte sie, nach über zwei Jahren in der gleichen Sportgruppe, das erste Mal von sich aus ein Gespräch angefangen. Es war grauenhaft verlaufen. Die Frau hatte ihr von ihren Eheproblemen erzählt, und dazu hatte sie natürlich gar nichts sagen können. Was wisse sie schon von Beziehungen. Sie hielt sich für eine totale Versagerin und hatte sich schon eine Flasche Wein und Schlaftabletten
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