Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
besorgt. Tessa nahm sie auf die Station auf und war zuversichtlich, der Frau helfen zu können.
Die Polizei brachte außerdem einen offensichtlich manischen Patienten, den sie auf der Eppendorfer Straße aufgegriffen hatten, als er gerade an einer ausgefallenen Ampel den Berufsverkehr regelte. Die Beamten kamen nicht umhin zuzugeben, dass er seine Sache gut gemacht hatte. Nur war er nackt, und draußen regnete es mal wieder. Und überhaupt habe er nicht mit sich reden lassen. Da hätten sie nicht mehr gewusst, was sie mit ihm machen sollten.
Ihr gegenüber gab der Nackte sich äußerst charmant. Er sah nicht ein, warum er seinen Adonis-Körper in Kleidung verhüllen sollte. Auch ihn nahm Tessa auf die Station auf. Für die Kollegen in der Kinder- und Jugendabteilung meldete sie einen zarten Jungen von sieben Jahren, der das Bein seiner Mutter nicht mehr losließ und kein Wort sagte. Die Mutter berichtete, dass er seit Wochen alles Mögliche in sich hineinschlinge. Alles, nur keine Lebensmittel. Seit zwei Tagen bevorzugte er die Tapete im Kinderzimmer. Eine Pica im Kindesalter. Eine Störung, bei der die Kinder nicht essbare Substanzen schlucken. Ohne Rücksicht auf ihren Magen. Als der Junge anfing zu weinen, rief sie einen Pfleger, um ihn mit seiner Mutter in die Kinderabteilung bringen zu lassen.
Jetzt musste sie nur noch den Befund ihres letzten Patienten in die Formulare für die Krankenkassenbürokraten eintragen, dann konnte sie endlich Mittagspause machen. Sie dachte an das gerade geführte Gespräch mit Patrick Bollmus. Er war ein alter Bekannter auf der Station. Solange er seine Medikamente regelmäßig nahm, ging es ihm gut. Dann wurde er die Nebenwirkungen leid und setzte die Medikamente ab. Meist schlug die Psychose innerhalb kurzer Zeit wieder zu.
»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?«, hatte Tessa den ungepflegt wirkenden Bollmus gefragt. Er schien sie nicht wiederzuerkennen.
»Ich habe lange gewartet.« Der bärtige Mann rutschte auf dem Stuhl hin und her und warf von Zeit zu Zeit seine langen Haare mit einer ruckartigen Bewegung nach hinten.
Tessa vermied Augenkontakt mit ihm. Bollmus sollte sich sicher fühlen, und psychotische Patienten mochten keinen direkten Blickkontakt.
»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Also: Sie haben am Arbeitsplatz mit falschem Namen wichtige Papiere unterschrieben, und Ihre Kollegen fanden Ihr Verhalten auffällig. Sie haben ihnen Briefe und E-Mails geschrieben, die einige Mitarbeiter sehr beunruhigt haben.«
»Das war nur ein Scherz. Nicht so gemeint.«
»Auch die Drohungen?«, fragte Tessa.
»Nur ein kleiner Spaß. Ehrlich.«
»Und die Unterschriften?«
»Habe ich Ihnen erzählt, dass ich auch einen Doktortitel habe?«
»Nein. Welchen?« Tessa lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und beobachtete den jungen Mann, der zu schwitzen begonnen hatte. Sein Vollbart war ausgefranst und ungepflegt. Auf seinem T-Shirt entdeckte sie Flecken. Vielleicht vom letzten Mittagessen. Wie lange das wohl zurückliegen mochte? Er wirkte noch ausgemergelter als bei seinem letzten Aufenthalt.
»Doktor Nomen est omen«, sagte er mit einem heftigen Nicken.
»Hhhmm. Herr Bollmus, hören Sie in der letzten Zeit Stimmen?«
»Welche Stimmen?«
»Stimmen, die andere nicht hören können. Die Ihnen etwas sagen oder befehlen wollen?«, fragte Tessa nach.
»Ich habe den Herrn gesehen. Ganz dicht stand er neben mir«, sagte er und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dann fuhr er feierlich fort: »Hiermit möchte ich Ihnen die Medaille ›Heiliger Pater Pio‹ schenken. Mögen Sie den Beistand dieses bedeutenden Heiligen erfahren, wenn Sie es dringend brauchen. Möge Ihnen das ewige Licht leuchten. Bitte beten Sie dafür, dass mir andere Menschen nichts Böses antun. Amen.«
Tessa lehnte sich vor und schaute Bollmus das erste Mal wieder direkt in die Augen.
»Herr Bollmus, wir müssen über Ihre Medikamente sprechen. Geht das?«
»Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld. Darum bitte ich die heilige Jungfrau Maria, alle Engel und Heiligen, für mich zu beten bei Gott unserem Herrn. Der Herr mit den blonden Locken. Bitte stehe mir mindestens so stark wie die heilige Jungfrau Maria bei. Bitte retten Sie mindestens drei Menschen das Leben, ich verlange es freundlich von Ihnen. Lassen Sie nicht alle sterben.«
Es war schwer, zu ihm durchzudringen. Doch Tessa ließ nicht locker: »Ich möchte, dass Sie Ihre Medikamente morgens und abends
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