Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
regelmäßig nehmen. Okay? Sie dürfen nicht damit aufhören. Sonst kommen die Stimmen.« Er quälte sich vermutlich maßlos, wenn er glaubte, sich derart versündigt zu haben.
»Die Medikamente machen mich so müde«, antwortete Bollmus, plötzlich ganz bei ihr.
»Das ist eine häufige Nebenwirkung. Aber das Zyprexa wirkt gut bei Ihnen. Ich möchte es nicht wechseln. Andere Medikamente haben schlimmere Nebenwirkungen. Bitte probieren Sie es.«
»Aber Sie müssen endlich etwas unternehmen«, insistierte er.
»Das tun wir. Bald ist es besser. Ich rufe jemanden, der Ihnen zeigt, wo Sie sich ausruhen können.«
»Nur, wenn ich ein eigenes Bett bekomme.«
»Abgemacht.«
Pflegeschüler Philipp holte den Patienten aus ihrem Therapiezimmer ab, um ihm ein Zimmer auf der Station zuzuweisen. Jetzt konnte sie endlich eine Pause machen. Sie hatte bereits leichte Kopfschmerzen vor Hunger.
Plötzlich ertönte ein durchdringender kurzer Schrei. Tessa zuckte hinter ihrem Schreibtisch zusammen. In der Stille danach lauschte sie, ohne zu atmen. Dann sprang sie auf, riss ihre Zimmertür auf und blickte den Flur hinunter. Auf Höhe des Aufenthaltsraumes versammelten sich die herausströmenden Patienten und verstellten ihr die Sicht. Sie drückten sich an die Wände, schubsten den Nachbarn vor und wollten sich verstecken, aber gleichzeitig etwas sehen. Sie hörte einen Pfleger bitten, Platz zu machen. Tessa betete, dass es kein weiterer Suizidversuch war. Wenn erst einmal einer anfing … Sie rannte los. Schob die ersten Patienten zur Seite, um zur Ursache des Tumults zu kommen. Sie konnte noch immer nicht ausmachen, wo genau der Ursprung lag.
»Wir haben gleich unsere Therapiesitzung«, sprach sie Kurt Mager von der Seite an. Er tickte auf seine Armbanduhr. »Um 14.30 Uhr. Das ist in einundzwanzig Minuten. Genau in einundzwanzig Minuten.«
»Lassen Sie mich durch. Was ist passiert?«
»Etwas Entsetzliches. In zwanzig Minuten. Kommen Sie pünktlich. Sie wissen, wie sehr ich warten hasse«, quengelte er und tickte wieder auf das Uhrglas.
Tessa drängelte weiter. Sie hatte jetzt keine Nerven für Magers Kontrollzwang. Sie versuchte über die Köpfe einen Blick nach vorne zu erhaschen. Offensichtlich war neben der Küche im kleinen Lagerraum etwas passiert. Tessa ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ein Pfleger zwängte sich kreidebleich durch die Menge. Bevor sie ihn zu fassen bekam, teilte sich vor ihr die Patiententraube.
In dem kleinen Lagerraum stapelten sich Wasserkästen, Stühle und Kartons. Rechts war ein schmaler Lastenfahrstuhl. Die Türen standen offen. Tessa hielt den Atem an. Ein Frauenschuh lag vor dem Fahrstuhl. Daneben eine Haarspange. Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. Tessa drehte sich um. Paul stand vor ihr. Sein Blick war unergründlich, er schüttelte nur den Kopf, sagte kein Wort. Seine Hand fühlte sich schwer auf ihrer Schulter an. Sie zwang sich, in den Fahrstuhl zu sehen. Hinter dem einsamen Schuh ergossen sich lange blonde Haare auf den Boden. Der Kopf merkwürdig zur Seite verdreht. Die Augen geschlossen. Die Lippen kirschrot. Seltsam, schoss es Tessa durch den Kopf, sonst trug sie nie Lippenstift. Eine Hand lag unter ihrer Wange. Überall war Blut. Woher kam so viel Blut? Tessa schwindelte. Gabriele Henke lag wie ein Embryo gekrümmt halb im Fahrstuhl, halb davor. Als ob sie schliefe. Tessa machte einen Schritt nach vorne und zwang sich, genau hinzusehen. Der Hals war eine einzige klaffende Wunde. Nahezu durchtrennt. Sie sah Glasscherben. Scherben einer zerschmetterten Wasserflasche. Ihr Magen verkrampfte sich.
Schmerzhaft spürte sie wieder Pauls Hand auf ihrer Schulter, er zog sie nach hinten.
»Tessa, tu dir das nicht an!«
Doch sie konnte den Blick nicht mehr lösen. Die blutigen Scherben. Eine Welle Ekel ergriff sie. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Tränen liefen ihr über die Wangen. Gabriele Henke war ihre Patientin. Paul zog sie energisch aus dem Lagerraum. Ein Brechreiz schüttelte sie. Sie übergab sich einfach auf den Gang.
Kurt Mager trat unvermittelt neben sie. »Gleich geht es Ihnen besser, ja? Wir haben doch Therapiesitzung. Und Sie müssen sich noch die Zähne putzen. Sonst ist das eklig.« Wieder das Ticken auf der Armbanduhr. Tessa würgte weiter. Die anderen Patienten blieben in respektvollem Abstand. Einige weinten. Andere lachten verängstigt. Paul strich ihr sanft über den Rücken. Murmelte dabei beruhigend auf sie ein. Der Tod
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