Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Das Treppenhaus roch nach Zigarettenrauch und irgendetwas Undefinierbarem. Zwiebeln und Kohl? Koster schloss die Tür zur Wohnung auf. Der Geruch drinnen war nicht viel besser. Muffig und abgestanden. Hier hatte lange keiner gelüftet. Er tastete nach dem Lichtschalter. Der Flur erstrahlte in hellem Licht. Kaltes Licht. Immerhin der alte Dielenboden strahlte eine gewisse Wärme aus. Vom lang gezogenen Flur gingen zwei Zimmer ab. Davor eine kleine Küche und gleich rechts ein winziges Bad. Koster grub ein Paar Latexhandschuhe aus seinen Manteltaschen aus, während er langsam durch die Wohnung ging und sich umsah. Sie lebte alleine. Er versuchte, sich die kleine blonde Frau hier vorzustellen. Wie sie nach Hause kam, ihre Jacke an die Garderobe hing. Er drehte sich um Richtung Wohnungstür. Es gab keine Garderobenhaken. Keinen Tisch oder Schrank im Flur. Wo legte sie ihre Post ab und wo deponierte sie den Haustürschlüssel? Nur ein kleiner Spiegel hing an der Wand. Diese Bleibe hatte etwas Provisorisches. Das erste Zimmer war ihr Schlafzimmer. Er blieb an der Tür stehen, um seine Eindrücke aufzunehmen. Ein ungemachtes Bett. Auf dem Nachttisch ein Weinglas, eine heruntergebrannte Kerze. Ein Glas. Sie musste vor Kurzem hier gewesen sein. Alleine. Er notierte sich im Geiste, dass er die Ärztin fragen wollte, ob die Patienten einfach so die Klinik verlassen durften? Kein Buch oder eine Zeitschrift. Hatte sie einfach nur mit einem Glas Wein im Bett gelegen? Das Rollo am Fenster war hochgezogen. Leise drang der Verkehrslärm herauf. Autohupen und ein knatterndes Mofa. Er ging zum Fenster. Der Blick nach draußen ging auf die belebten Straßencafés des Schulterblatts. Einige Tapfere saßen trotz der Kälte draußen. Vielleicht nur, um zu rauchen. Auch vom Fenster aus ergab sich kein neues Bild des traurigen Schlafgemachs.
Die Wohnung machte insgesamt einen verwahrlosten Eindruck. Als Hartz-IV-Empfängerin hatte sie kein Geld für teure Einrichtung übrig gehabt. Aber da war noch mehr. Die Atmosphäre zog ihn förmlich herunter. Er fühlte sich einsam. Im Wohnzimmer lag die Morgenpost auf dem verblassten blauen Teppichboden. Der Tod in der Psychiatrie – tötete Isabell D. sich selbst? hatte es auf die Rückseite geschafft. Gabriele Henke war also tatsächlich zu Hause gewesen. Ein großer Fernseher und ein Korbsessel davor, auf dem eine weiße Wolldecke lag. In der Ecke eine Stehlampe und eine kleine Kommode. Auf alt getrimmt. In den Schubladen Behördenpost, Reklame, Kontoauszüge. Eine ungeöffnete Stromrechnung. Sonst nichts. Keine Bilder an den Wänden, keine Fotos. Kaum Bücher. Nichts lud zum gemütlichen Lesen ein, dachte Koster. Kein Schreibtisch.
Die Küche wirkte etwas freundlicher. Am Kühlschrank hingen farbenfrohe Kinderbilder. Vielleicht hatte sie Enkel? Er begann zu zählen. Es waren insgesamt fünfzehn Bilder. Tusche und Wachsmalkreide. Koster musste lächeln. Ein schöner Farbklecks in dieser tristen Behausung. Auf dem großen runden Küchentisch stand ein Teller mit einem Becher darauf. Daneben zwei Stapel Papier. Er blätterte lustlos darin und begann ein paar Seiten zu überfliegen. Zu seiner Überraschung fand er sich in wissenschaftlichen Abhandlungen zu Antidepressiva wieder. Im zweiten Stapel fand er Beschreibungen einer Stichprobe, Zahlenkolonnen, Rechnungen. Nachdem er das Deckblatt gefunden hatte, konnte er es der Studie von Oberarzt Neumann zuordnen. Duoxepin – der Wirkstoff der Zukunft. Gehören Depressionen der Vergangenheit an?
Was zum Teufel sollte das denn? Daneben lag ein aufgeschlagenes Wörterbuch Englisch-Deutsch. Gabriele Henke hatte offenbar versucht, sich einen englischen Artikel zu übersetzen. In dem Text waren viele Wörter mit Bleistift unterstrichen und übersetzt. Besonders weit war sie nicht gekommen. Background on suicidality as a risk of antidepressant treatment. Was wollte sie damit? Wie war sie da überhaupt dran gekommen? Koster klemmte sich die Papiere unter den Arm. Das wollte er sich genauer ansehen. Er zuckte zusammen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Während er den Türsummer drückte und die Spurensicherung polternd die Treppe raufkommen hörte, stieß er mit dem Fuß an etwas. Er blickte zu Boden. Ein Telefon mit Anrufbeantworter. Hinter der Eingangstür. Merkwürdiger Ort. Das Lämpchen blinkte. Er drückte auf ›play‹. Rauschen. Piep. Eine alte Nachricht. Knacken. »Das lasse ich mir von dir nicht gefallen,
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