Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Stille. Koster ging einfach zum Fenster und öffnete es ungefragt. Zu viel Testosteron in der Luft.
»Darf ich eine rauchen?«, fragte er. Ihre hochgezogenen Augenbrauen waren auch eine Antwort.
»Warum sind Sie so wütend?«, fragte sie.
»Also wirklich: Die Mutter ermordet! Warum erfahre ich das erst jetzt? Hat er sie umgebracht?« Er war stinksauer.
»Nein, herrje, es war der Liebhaber der Mutter. David Brömme wohnte noch zu Hause, etwas außerhalb Hamburgs. Seine Mutter bat ihn, früh nach Hause zu kommen. Sie wollte … egal. Doch er kam spät. Zu spät. Es hatte wohl Streit gegeben und viel Alkohol. Der Mann hat ihr ein Messer in den Bauch gerammt. David Brömme musste mitansehen, wie seine Mutter starb.«
Koster spürte förmlich, wie sie nach Worten rang.
»Es ist ein Jahr her, und er kam erst in Behandlung, nachdem er alles verloren hatte. Seinen Studienplatz. Die Reste seiner Welt.« Wieder machte sie eine Pause. »Es ist alles so irreal.«
»Stimmt.« Er lächelte schief. »Ich frage mich, ob ich was übersehen habe. Zwei Tote in drei Tagen … Erzählen Sie mir, auf welche Weise Sie David Brömme behandeln? Vielleicht die Kurzversion.«
Sie hielt sich dran. »Schuld. Es geht häufig um Schuldgefühle. Sie sollten mit Paul Nika sprechen. Er ist der Therapeut von Herrn Brömme.«
»Was ich nicht verstehe, ist seine kühle Art.« Koster überlegte. »Ich meine, ist er nicht entsetzt, wenn in seiner Nähe jemand ermordet wird – so kurz nach dem Tod seiner Mutter? Es müsste ihm nahegehen, oder?«
»Tut es bestimmt. Ein Lächeln bedeutet manchmal dasselbe wie Tränen. Vielleicht schützt er sich.«
»Wie halten Sie es nur aus?«, fragte Koster erschöpft.
»Was meinen Sie?«
»Na, das ganze Elend. Die schrecklichen Geschichten. Jeden Tag.«
»Tun Sie doch auch.« Sie überlegte. »Die Geschichten sind nicht das Schlimmste. Die ständige Auseinandersetzung mit den Gefühlen ist viel schwerer auszuhalten. Es gibt Tage, da bin ich nur mit Angst und Verzweiflung konfrontiert. Mit Wut und Hilflosigkeit. Es passiert nichts Schönes. Und ich muss alle diese Gefühle in mir aufnehmen, sie verarbeiten und mitfühlen. Ja, manchmal leide ich auch mit. Mal mehr, mal weniger. Dann gehe ich nach dem Dienst laufen.« Sie schaute aus dem Fenster, sprach mehr zu sich selbst. »Am Anfang spüre ich meine Muskeln und Sehnen, weil sie noch nicht warm sind. Die ersten zehn Minuten können hart sein. Manchmal möchte ich dann umkehren, aber mein Körper nimmt den Rhythmus auf. Danach mein Kopf. Ich trete den Frust des Tages einfach in den Grund, auf dem ich laufe. Dann fließen meine Gedanken, und die Probleme schrumpfen ganz von alleine. Mein Kopf wird frei. Ich habe den Wunsch, ewig weiterzulaufen, bis ich merke, dass ich bereits angekommen bin.«
»Sprechen Sie weiter«, murmelte er. Er wünschte, sie würde noch viel mehr über sich erzählen.
»Es lässt sich nicht immer alles verstehen, was die Patienten uns offenbaren. Manchmal muss ich nur spüren. Ab und zu verstehe ich gar nichts. Ich versuche, neugierig zu bleiben. Das hilft. Und bisweilen gibt es nichts mehr zu verstehen, nur zu akzeptieren.« Sie lachte kurz auf. »Das ist sehr vage, entschuldigen Sie.«
»Nein, es interessiert mich. Sehr sogar. Ich ärgere mich über mich selbst. Die Ermittlungen sind … es fällt mir nicht leicht.« Er schüttelte den Kopf.
»Mir macht es Angst.« Tessa wirkte nachdenklich. »Aber Sie können ihren Ärger benutzen, um den Mörder zu finden. Isabell Drost hat sich nicht umgebracht. Und Gabriele Henke auch nicht.«
»Wie viele Ihrer Patienten haben sich das Leben genommen?«, fragte Koster.
»Es wäre das erste Mal. Aber ich kann nicht glauben, dass Isabell Drost sich selbst das Leben genommen hat. Ich habe immer Angst vor diesem Moment gehabt. Und sollten Sie tatsächlich recht behalten mit Ihrer Selbstmordtheorie, dann …« Sie hielt kurz inne. »Ich weiß theoretisch, dass es Unsinn ist, sich Vorwürfe zu machen, dass ich im entscheidenden Moment nicht für sie da war. Darüber zu grübeln, ob ich etwas übersehen habe, Falsches gesagt habe und so weiter. Da ließe sich immer etwas finden, was ich gegen mich auslegen könnte. Ich fühle mich nur so schrecklich hilflos.« Sie schaute Koster in die Augen. »Verstehen Sie?«
Er sagte nichts. Er nickte nur. Er konnte sie nur zu gut verstehen.
»Ich versuche, mich ständig daran zu erinnern, dass Menschen die Verantwortung für die Entscheidung zum Leben oder
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