Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
überstieg alle Grenzen. Er ängstigte sie alle gleichermaßen.
*
Koster stand mit den Händen in den Taschen vor der toten Gabriele Henke. Neben ihm fragte Liebchen Informationen von einem der Schutzpolizisten ab, die den Tatort gesichert hatten. Er hatte auch schon Alexander Clement verständigt. Das lag nahe, befand sich doch die Rechtsmedizin auf dem gleichen Gelände. Alexander war sofort an den Tatort geeilt. Er hatte Koster nur kurz zugenickt und weiter konzentriert in sein Diktiergerät genuschelt. Die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Kapuzenoveralls huschten geschäftig hin und her. Einer schoss Fotos vom Tatort. Das grelle Blitzlicht durchzuckte den kleinen Lagerraum.
»Mit der zerbrochenen Flasche hat er die Halsarterie getroffen«, raunte ihm Alexander zu. »Er muss sie direkt am Lastenfahrstuhl angegriffen haben. Die Leiche wurde nicht mehr bewegt.«
»Er?« Koster hob eine Augenbraue.
»Na ja, ich mein’ ja nur.« Sein Freund zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder dem Leichnam zu.
»Alexander, wir brauchen schnell alle Informationen über Todeszeitpunkt und so weiter. Lange kann sie ja nicht hier gelegen haben.« Kosters Stimme klang angespannt. »Wer hat sie gefunden? Wer hat sie zuletzt gesehen? Wann? Wo?« Er redete mehr mit sich selbst als mit den anderen. Was um alles in der Welt machte die Frau im Lastenfahrstuhl? Er fragte sich, was er übersehen hatte. Zwei Tote in drei Tagen. Das war doch kein Zufall. »Wir müssen einen Überblick über Patienten und Personal bekommen. Liebchen, tu mir den Gefallen und verschaff dir einen Überblick, wer wann wo war. Nicht, dass wir jemanden übersehen. Ich will alle Hintergrundinformationen. Und übrigens, die Akte Isabell Drost bleibt offen.«
»Warum?«, fragte Liebetrau. »Das war eindeutig Selbstmord.« Dabei betonte er jedes Wort.
»Am Ende vielleicht. Aber was war vorher? Ich will verstehen, was hier los ist, verdammt noch mal. Wer bringt eine Patientin in der Psychiatrie um? Jemand von außerhalb? Ein genervter Pfleger? Oder ist einem Patienten die Sicherung durchgebrannt?« Seine Kiefer mahlten. »Wir müssen herausfinden, wer Zugang zum Lastenfahrstuhl hat und ob man einen Schlüssel braucht. Warum war der offen? Die Spurensicherung soll sich beeilen.«
In diesem Moment kam Staatsanwalt Menzel in den kleinen Lagerraum. Er blieb bewegungslos in der Tür stehen, nur sein Blick huschte hin und her. »Was für ein Schlamassel.«
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Koster.
»Ich ordne gleich die Obduktion an, und ich möchte zeitnah über alles informiert werden. Am besten kümmere ich mich um die Presse.«
Koster nickte, dankbar, keine Vorhaltungen anhören zu müssen. »Ich brauche eine Durchsuchungserlaubnis für die Wohnung der Toten. Da fahre ich sofort hin. Liebetrau beginnt mit den Befragungen auf der Station.«
»Gibt es Verwandte?«, fragte Menzel.
»Eine Tochter. Maria Rosenstein. Ich lasse gerade prüfen, wo sie wohnt«, sagte Liebchen. »Das Handy geht zur Auswertung. Hier ist der Haustürschlüssel – und ein kleiner Kalender. Sie hat sich in den letzten Tagen drei Mal mit einer Alba getroffen. Vermutlich eine Freundin.« Er gab Koster den Schlüsselbund.
»Finde raus, wer das ist«, bat Koster. »Und ruf alle anderen aus dem Adressverzeichnis an. Was sind das für Leute?«
Koster ließ seinen Blick über die verbliebenen Patienten wandern, die von Absperrbändern zurückgehalten im Türrahmen des Aufenthaltsraumes standen. Leere Blicke. Er bekam eine Gänsehaut.
»Liebchen, nimm Doktor Ravens mit, wenn du mit den Patienten sprichst. Sie entspannt die Atmosphäre. Ich komme dazu, sobald ich aus Henkes Wohnung zurück bin«, sagte er.
Auf der Fahrt kurbelte er die Scheiben seines Dienstwagens auf beiden Seiten ganz nach unten. Er brauchte Luft. In der Psychiatrie hatte er ständig das irrationale Gefühl, zu ersticken. Das lag sicher nicht nur an dem Krankenhausgeruch. Er steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Das war zwar auch keine Lösung, aber tat gut.
Lange brauchte er nicht, um ins Schanzenviertel zu kommen. Er parkte im Halteverbot direkt vor dem Altbau, in dem Gabriele Henkes Wohnung lag. Das Gebäude war in einem schlechten Zustand. Der Putz bröckelte von der Fassade, die alte Holztür war voller Graffitis und die Briefkästen verbeult. Jemand hatte seiner Wut freien Lauf gelassen. Die alten Holzfenster waren klein und von der Witterung zersetzt. Einen Anstrich hatte das Haus
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