Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
betreten hatte. Als man die Eltern verhaftete, brachte eine Hausangestellte die Kinder zu einem Onkel.
Das hatte Tessa aus den Erzählungen des Mädchens ergründen können. Wenn sie von den guten Zeiten mit ihren Eltern erzählte, huschte für einen flüchtigen Augenblick ein Lächeln über ihr Gesicht.
Kaum waren Kiana und ihr Bruder bei dem Onkel in scheinbarer Sicherheit, fing der Horror erst richtig an. Der Onkel war ebenfalls unter Druck. Er versuchte, die Kinder in den Iran zu schaffen. Das scheiterte. Dann begann »Operation Enduring Freedom«. Der Onkel und seine Familie kamen dabei um. Kurz davor hatte er Kontakt zu einem Deutschen von Ärzten ohne Grenzen aufgenommen. Der Mann kannte Kianas Vater aus der Zeit in Deutschland und brachte Kiana und ihren Bruder wie durch ein Wunder in Sicherheit. Nach Deutschland. Ins Gelobte Land. Hier landeten sie im Asylheim.
Tessa machte sich eine Notiz, dass sie Kiana fragen wollte, wie ihr Bruder mit den Verlusten umging? Ob sie darüber sprachen, wenn er zu Besuch kam. Vielleicht war er sogar auf der Station gewesen, als Henke starb? Schluss jetzt, schalt sie sich, du fängst bereits an, jeden zu verdächtigen. Die beiden hatten wirklich genug Grauenhaftes erlebt. Warum nur kam der Asylantrag nicht durch? Nur weil die Geburtsurkunden fehlten? Tessa schmiss den Kugelschreiber hin. Man durfte sie nicht nach Afghanistan abschieben. Das wäre Irrsinn. Aber durfte Tessa sie hier auf der Station behalten?
Wo war Kiana eigentlich? Sie kam sonst nie zu spät. Sie wollte gerade zur Tür gehen und Kiana holen, als es klopfte. Zehn Minuten zu spät. Vor der Tür standen Pflegeschüler Philipp und Kiana.
»Sie hat sich geschnitten. War nicht tief.« Philipp machte es kurz wie immer.
Das Mädchen setzte sich schweigend und schaute zu Boden. So begann jede Therapiesitzung. Es war, als müsse sie erst langsam im Therapiezimmer ankommen. Sich sammeln. Sich sortieren für die Reise in die Hölle, die ihre Vergangenheit war.
»Ist das eine Reaktion auf den Tod von Gabriele Henke?«, fragte Tessa und deutete auf Kianas Hand.
»Ich wollte vergessen. Deshalb.« Sie versteckte ihren bandagierten Arm.
»Ich wollte sowieso mit dir darüber sprechen, ob du dich hier noch sicher fühlst«, sagte Tessa.
Kiana schwieg.
»Ich habe überlegt, ob es vielleicht für dich besser wäre, in ein anderes Krankenhaus zu wechseln.«
»Ich lasse das Licht in der Nacht brennen. Katharina hat nichts dagegen«, wisperte Kiana. »Ich will nicht woandershin.«
»Ich könnte versuchen, dich in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen.«
»Ich möchte hierbleiben. Bei Ihnen. Ich will nur vergessen. Mehr nicht.«
»Kiana, du kannst nicht vergessen. Deine Symptome gehen nicht von alleine weg. Du hast Gewalt und Tod so hautnah erlebt, dass du sie heute in dir selbst spürst. Die Erinnerungen sind in deinem Trauma-Gedächtnis gespeichert. Manchmal schaffst du es, sie zu unterdrücken, aber dann überfallen dich die Gefühle erneut, und wenn die Spannung nicht mehr auszuhalten ist, verletzt du dich selber. So wie gerade eben.«
Tessa nahm die hingehauchte Zustimmung der Patientin als Aufforderung, weiterzusprechen. »Selbstverletzendes Verhalten ist wie ein Druckventil. Es ist wichtig, dass wir die Auslöser finden. Du hast gesagt, dass du die Sonne hasst und sie meidest. In deinem Zimmer bleibst. Die Sonne ist also ein Auslöser für deine Erinnerungen. Dein Gedächtnis will dich warnen. So nach dem Motto: ›Pass bloß auf, dass es dir nicht wieder passiert.‹ Aber du musst unterscheiden lernen zwischen Auslösern, die ungefährlich sind, und solchen, die eine wirkliche Bedrohung darstellen. Die Sonne ist nicht gefährlich.«
»Aber es fühlt sich doch so an.«
»Ja, das glaube ich. Es gehört zu den Symptomen. Diese plötzlichen Erinnerungen, die du hast, als ob es jetzt gerade passiert, Flash-backs nennen wir das. Die Albträume, deine Schreckhaftigkeit, dein Vermeidungsverhalten, all das sind typische Symptome einer Posttraumatischen Belastungsreaktion. Deine intensiven Gefühle … Ich möchte dir helfen. Die Gefühle sind so stark, dass du dich ihnen ausgeliefert fühlst und dich schneidest. Aber du kannst lernen, dich diesem Gefühl nicht hinzugeben, sondern gegen das Gefühl zu handeln.«
Kiana hatte zugehört, sah aber nicht im Mindesten beruhigt aus. Tessa machte es aber auch viel zu kompliziert.
»Für dich ist die Welt nur unsicher und schlecht. Und der Mord an deiner Mitpatientin
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