Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
bestätigt dich in deiner Einstellung. Und es ist ja auch unvorstellbar. Aber es hat nichts mit dir zu tun. Du brauchst ein eigenes Leben. Eine Ausbildung und Freunde.«
Unvermittelt hielt Kiana sich den Bauch, als ob sie große Schmerzen litt. Sie wiegte sich leicht vor und zurück. Etwas in Tessas Worten hatte eine Erinnerung ausgelöst. Aus dem Nichts.
»Was ist los?«
Kiana schaute auf. Ihr Mund war angespannt verzogen. Hart.
»Hier sind die Männer auch nicht besser. Er weiß es und benutzt es …« Kiana holte tief Luft. Tessa wartete auf die Erklärung. Aber was immer Kiana hatte sagen wollen, der Augenblick verstrich, und sie schlug die Hände vors Gesicht.
Tessa ließ sie eine Weile, bevor sie fragte: »Von wem sprichst du?«
»Ich muss jetzt gehen, die Zeit ist um.«
»Wie bitte?« Tessas Blick suchte die Uhr. »Warte.« Das Mädchen war einfach aufgestanden. Sie war auf der Flucht. »Kiana, alles wird gut«, sagte Tessa hilflos.
Kiana schaute an der Tür für eine Sekunde zurück, und Tessa wusste, dass das junge Mädchen ihr nicht glaubte. Kein einziges Wort.
Tessa blieb mit ihren Zweifeln allein zurück. Sie öffnete das Fenster, um zu lüften. Das Zimmer und ihre Gedanken. Beim Blick auf das Fensterbrett fiel ihr ein, dass sie noch keinen Stein für Kiana gesammelt hatte. Es war keine Zeit gewesen, an den Strand zu fahren. Und vermutlich blieb das Mädchen nicht lang genug, als dass Tessa den richtigen Stein oder eine Muschel für sie fände. Sie nahm einen dunklen Donnerkeil in die Hand. David Brömme. Mit ihm musste sie dringend sprechen. Der gestrige Abend durfte nicht unkommentiert bleiben. Sie schloss die Augen, atmete tief die frische Luft ein. Eine Zigarette wäre jetzt schön. Sie schmunzelte und schloss das Fenster. Schließlich war sie Nichtraucherin.
Wenig später saß David Brömme ihr gegenüber im Sessel und sah sie mit großen unschuldigen Augen an. Er ließ keine peinliche Stille entstehen, sondern gab ihr das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Plötzlich wusste sie nicht mehr, warum sie eigentlich so ein Drama daraus machte, dass er ihre Hilfe suchte.
»Ich wollte mit Ihnen über gestern Abend sprechen. Ich möchte nicht, dass sich das wiederholt. Meine Wohnung ist meine Privatsphäre. Da haben Patienten keinen Zutritt.« Ihre Stimme war nicht so fest, wie sie sich das gewünscht hatte, denn Brömmes Blick à la »ich hab doch nichts getan« verfehlte nicht seine Wirkung. »Ich habe ein Privatleben. Verstehen Sie?«
»Natürlich. Sorry. Ich wusste nicht, zu wem ich gehen sollte, und ich war sicher, dass Sie sich kümmern. Sie suchen den Ex von Gabriele. Und ich helfe Ihnen.«
»Das können wir getrost der Polizei überlassen, die brauchen unsere Hilfe nicht«, erwiderte Tessa. Das musste er doch verstehen, oder?
»Doch, die brauchen sie. Hier drinnen kommen nur wir beide an Informationen. Sie haben gesehen, was passiert, wenn die Polizei reden will. Die Vollversammlung war ein totaler Flop.«
Damit hatte er allerdings recht. Innerhalb dieses Mikrokosmos konnte die Polizei wenig ausrichten.
»Ich spreche noch einmal mit der Tochter von Gabriele Henke. Ansonsten lassen wir alle in Ruhe, okay?«
Brömme kniff die Augen leicht zusammen. »Und wenn es kein Fremder war, sondern jemand vom Personal?«
»Quatsch! Außerdem bin ich Therapeutin, kein Sheriff.« Tessa holte tief Luft und sprach aus, was sie dachte und nicht hätte sagen sollen. »Ich kann verstehen, dass Sie besonders verstört sind über den gewaltsamen Tod von Henke, aber es besteht kein Zusammenhang zum Tod Ihrer Mutter.«
Bei ihren Worten blinzelte Brömme erstaunt. »Sie machen sich Sorgen um mich.« Sein Tonfall war fast zärtlich. »Haben Sie nie Angst?«, fragte er.
So wie er ihr gegenübersaß und ehrlich daran interessiert schien, wie es ihr ging, hätte sie ihm am liebsten etwas von sich erzählt. Von ihren Minderwertigkeitsgefühlen und den Sorgen, keine gute Therapeutin zu sein. Aber dann riss sie sich zusammen und erinnerte sich, welche Rolle sie ihm gegenüber hatte.
»Jeder Mensch hat Ängste …«
Als hätte Brömme sofort gespürt, dass sie ihm keine persönliche Antwort geben wollte, unterbrach er sie.
»Angst, vielleicht die Nächste zu sein?«
Tessa antwortete nicht. Bisher hatte sie keine Sekunde daran gedacht, auf irgendeine Art in die Geschehnisse involviert zu sein. Aber vielleicht hatte David Brömme recht. Es gab keinen Grund, Gabriele Henke zu ermorden. Kein Motiv. Und wenn
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