Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Kein Zutritt ohne Mund- und Augenschutz oder Achtung, Röntgenstrahlen . Dann stand sie vor Neumanns Bürotür. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Noch konnte sie zurück. Alles abbrechen. Denn hier wartete die nächste Hürde auf sie. Der Einlasscode zu seinem Büro. Den hatte sie nicht. Aber sie hatte eine Idee.
Gestern in der Abendübergabe hatte es sofort geklappt. Neumann hatte wie immer seinen Kalender auf dem Tisch liegen gelassen, als er eine kurze Visite bei einem Patienten gemacht hatte. Tessa war mit dem Kalender auf die Toilette geeilt. Sie wusste genau, was sie suchte, irgendwo in diesem Kalender mussten Neumanns Passwörter stehen. Sie erinnerte sich noch sehr gut an sein Telefonat mit der Telekom, als sie nach der Vollversammlung im Dienstzimmer gestanden hatten. Das Passwort sei Oktober16, hatte er nach einem Blick in den Kalender gesagt. Also mussten seine Passwörter in dem Kalender stehen. Als ihr klar wurde, dass sie mitten in einer Krankenhaustoilette stand und hektisch in dem geklauten Kalender ihres Oberarztes nach dessen Passwörtern suchte, zögerte sie einen kurzen Moment. Wie tief war sie gesunken? Trotzdem suchte sie weiter. Und landete einen Volltreffer. Es gab eine vollständige Liste mit Passwörtern. Eine Goldgrube. Von PIN -Nummern für sein Mobiltelefon, EC -Karte, Bibliotheksausweis, Internetportal bis hin zu Passwörtern für Paypal, i-Tunes und Laptop. Tessa brauchte nur drei Passwörter. Die schrieb sie sich auf ein Stück Toilettenpapier. Schwitzend war sie zurück ins Dienstzimmer geeilt und hatte unbemerkt den Kalender zurücklegen können. Es war nicht mal jemand im Raum gewesen. Kinderleicht. Und doch das Schwerste, was sie je getan hatte.
Angesichts der Tatsache, dass Neumann eine gesamte Liste mit Passwörtern angelegt hatte, musste Tessa ihn entweder für komplett bescheuert halten, oder die Passwörter waren noch nicht die richtigen Passwörter. Er konnte sie verschlüsselt haben. Als Forscher würde er einen Code wählen. So wie jeder Arzt es gewohnt war, seine Patientendaten zu anonymisieren. Doch welchen Code würde Neumann benutzen?
Tessa hatte sich drei Passwörter auf das Toilettenpapier geschrieben: ICD , DSM und SSRI für Labortür, Bürotür und Laptop. Klar, der Mann war so einfallslos, dass er sämtliche Passwörter aus seinem beruflichen Alltag rekrutierte.
In der Nacht hatte sie stundenlang überlegt, ob sie es wagen sollte. Und was passieren würde, sollte sie erwischt werden. Na ja, am Ende hatte sie eigentlich mehr Zeit damit verbracht, die Passwörter zu entschlüsseln. Und das war im Grunde ganz leicht. Neumann war einfach zu durchschauen. Für die Türen brauchte Tessa Zahlen, keine Wörter oder Buchstaben. Sollte Neumann die Zugangscodes einfach nach seinen geläufigsten Wörtern verschlüsselt haben? Sie »übersetzte« ICD in die Zahlen der Reihenfolge im Alphabet. I wurde zu 9, C zu 3 und D zu 4. Kaum hatte sie die Ziffern notiert, blitzte eine Erinnerung auf. Und verschwand genauso schnell wieder. Weiter. D wurde zu 4, S wurde zu 19 und M wurde zu 13. So weit, so gut. SSRI . Natürlich, sein geliebter Studienwirkstoff. SSRI wurde zu 19 19 18 9. Und nun? Nach einem weiteren Glas Wein wurde ihr der Zusammenhang endlich bewusst. Der Zettel aus Gabriele Henkes Unterlagen! Auf dem Zettel hatte jemand begonnen, ebenfalls die Buchstaben in Zahlen zu übersetzen. Wie war sie an diese Passwörter gekommen?
Außerdem fiel Tessa plötzlich noch etwas auf. Unter Telekom hatte in Neumanns Kalender September15 als Passwort gestanden. Am Telefon hatte er jedoch deutlich Oktober16 gesagt. Neumann hatte den uralten Trick genommen! Jede Zahl plus 1 . Dann wurde aus 9 3 4 plötzlich 10 4 5 und diese Zahlenfolge erkannte sie als Eingangscode zum Labor wieder.
Nun stand sie also hier vor der Bürotür, um herauszufinden, ob Neumann einfallslos war oder sie unendlich naiv. Fast hoffte sie, dass es nicht funktionierte. Dann wäre ihr die Entscheidung abgenommen, und sie könnte so tun, als hätte sie Neumann gesucht. Sie konnte zurück auf die Station gehen, und alles wäre gut. Stimmte ihre Vermutung, wäre sie einen Schritt weiter. Einen Schritt, von dem sie gar nicht sicher war, ob sie ihn gehen wollte. Sie holte den Zettel aus der Kitteltasche, um sich zu vergewissern. Dabei hatte sie die kurze Reihe längst auswendig gelernt und hielt den Zettel gefaltet in der Hand, während sie die Zahlen eingab.
ABLA: ICD = 9 3 4? / DSM = 4 19 13?
12121: 10 4 5/5 20
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