Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Liebetrau, das Tagebuch so schnell wie möglich zu sichern. Liebetrau nickte und fragte: »Womit hast du Kiana Chavari dazu gebracht, dir ein Alibi zu geben?«
Keine Antwort.
Die Neonröhre summte. Koster überlegte gerade, ob er Liebchen alleine weitermachen lassen sollte, als Philipp erneut zu erzählen begann. Er berichtete von gemeinsamen Touren mit dem Bruder von Kiana Chavari. Er hatte ihn auf der Station kennengelernt, und sie lagen auf einer Wellenlänge. Philipp hatte ein Gespräch zwischen Kiana und ihrer Bettnachbarin Katharina Waag mitbekommen, in der sie erzählte, was ihr in Afghanistan passiert sei. Dass sie Schande über die Familie gebracht habe und ihr Bruder das nie erfahren dürfte. Philipp schien es damals irrelevant. Doch als er voller Angst, beschuldigt zu werden, nach einem Ausweg suchte, fiel ihm die Geschichte wieder ein. Er drohte Kiana, alles ihrem Bruder zu erzählen, wenn sie nicht für ihn log und aussagte, dass er in der Nacht bei ihr gewesen sei. Kiana willigte panisch ein.
»Was soll das heißen, ›Schande für die Familie‹?«, fragte Koster verwirrt.
»Sie wurde von den Taliban vergewaltigt«, antwortete Philipp.
Liebetrau schüttelte den Kopf. Seine Abneigung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Doch das konnte Philipp nicht sehen. Er hatte den Kopf lange nicht mehr gehoben.
»Das darf ihr Bruder nie erfahren, sonst muss er Kiana verstoßen. Oder so ähnlich. Sie hat die Familienehre beschmutzt, glaub ich.«
»Wie bitte?«
»Ich habe keine Ahnung, Mann. Ich weiß nur, dass Kiana ein großes Gewese drum gemacht hat, nachdem es ihr rausgerutscht war. Katharina durfte auf keinen Fall etwas verraten, logo …«
»Wir prüfen das«, sagte Koster.
»Hat Gabriele Henke gewusst, dass du das Tagebuch und das Geld genommen hast?«, fragte Liebetrau, während er sich ein paar seiner Globuli in den Mund steckte.
»Sie hat nichts geschnallt. Sie schlief. Ich hab keine Ahnung, was mit der Henke passiert ist. Glauben Sie mir, ich habe wirklich keinen Schimmer.«
Und Koster glaubte ihm tatsächlich.
SECHSTER TAG
Nachdem Tessa gestern bereits den ersten Teil ihres unausgegorenen Plans in die Tat umgesetzt hatte, konnte sie die halbe Nacht nicht schlafen. Sie brütete über der Entscheidung. Hinterher konnte sie zumindest nicht mehr behaupten, dass es eine Kurzschlusshandlung war.
Sie hatte alle Argumente ein Dutzend Mal durchgespielt. Es lief immer wieder auf das eine Ergebnis hinaus: Es war falsch, und es war dumm. Sie war hin- und hergerissen, voller Angst, und trotzdem stand sie jetzt am frühen Vormittag im Erdgeschoss der Klinik vor der Schleuse zum Labortrakt. Bereit, ihre berufliche Zukunft aufs Spiel zu setzen. Nur um Neumann nicht mit einer Fälschung davonkommen zu lassen? Sie hatte an das Medikament geglaubt, aber ihre Zweifel wuchsen. Irgendetwas stimmte nicht. Nur was? Keine gute Grundlage für eine Entscheidung.
Aber wenn Neumann tatsächlich die Medikamentenstudie fälschte, konnte sie einfach nicht still danebensitzen und den Mund halten. Und wenn es sie ihren Job kostete. Dann war das eben so. Sie wollte mit dem leben können, was sie tat und getan hatte. Und sie war nicht bereit, mit Menschenleben zu experimentieren.
Die erste Hürde war die Tür zum Labortrakt. Für diese Tür gab es keinen Schlüssel. Sie war mit einem modernen Codeschloss gesichert. Tessa glaubte die Zahlenkombination zu kennen. Paul hatte sie einmal mitgenommen, als sie beide mit Neumann in dessen Büro verabredet gewesen waren. Er hatte die Zahlen eingetippt, und sie hatte sie sich automatisch gemerkt. Ohne lange darüber nachzudenken. Ihr fiel auf, dass sie sich nie gefragt hatte, woher er den Code kannte? Stand er so eng mit Neumann?
Tessa drückte die 1045 und betete, dass die Ziffern sich in der Zwischenzeit nicht geändert hatten. Das grüne Lämpchen leuchtete. Schnell schlüpfte sie durch die Tür. Vor ihr lag ein langer Flur. Es war niemand zu sehen. Rechts und links eine Tür nach der anderen. Neumanns Büro lag irgendwo in der Mitte auf der rechten Seite. Tessa hatte extra ihren weißen Arztkittel angezogen, um keine Fragen zu provozieren, falls ihr jemand begegnete. Auf der Station kam sie ohne dieses Machtsymbol aus. Es ängstigte die Patienten. Hier verschaffte es ihr hoffentlich die Legitimation, den Gang hinunterzuhuschen. Sie ging so langsam wie nötig, um die Namensschilder auf der rechten Seite lesen zu können. Auf den Türen klebten manchmal Zettel mit Aufschriften wie
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