Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
mussten warten.
Zuerst wollte sie Sascha anrufen. Sie brauchte ihn für die Auswertung der Daten. Wenn es Unregelmäßigkeiten geben sollte, wären die gut versteckt. Ihre Statistik-Kenntnisse reichten nicht aus, um solche raffinierten Details aufzuspüren. Würde ihr Bruder ihr helfen? Das hing vermutlich davon ab, wie sehr ihn sein momentanes »Lieblingsspielzeug« fesselte. Schnell wechselnde Affären waren sein Markenzeichen. Nur nicht festlegen. Vielleicht konnte sie ihm ein paar ernsthafte Momente abtrotzen. Und sie musste Torben Koster anrufen. Irgendwann musste sie ihm beichten, was sie getan hatte. Vielleicht konnte sie damit warten, bis Sascha einen Fund gemacht hatte?
In ihrem Computer-Postfach warteten neunzehn neue E-Mails. Erst Sascha. Als sie zum Hörer griff, bemerkte sie den Post-it-Zettel, der dort klebte.
Melde Dich bei mir! Wir müssen dringend reden! Paul.
Später – auch Paul musste jetzt warten.
Obwohl sie sie selten benutzte, kannte Tessa die Telefonnummer ihres Bruders auswendig. Sascha nahm sofort den Hörer ab, und seine Stimme klang, als ob er direkt neben ihr stünde. Sie schlug einen freundlich-fröhlichen Ton an und fragte, wie es ihm ginge. Er fiel nicht darauf rein.
»Schwesterchen, was willst du? Das ist kein Höflichkeitsanruf, das höre ich an deiner Stimme.«
»Zwei unserer Patientinnen sind tot. Es war Mord. Zumindest bei der einen. Hast du davon gehört?«
»Natürlich. Ihr seid das Stadtgespräch. Steckst du in Schwierigkeiten?«
Tessa blieb fast die Luft weg. »Ich hab nichts damit zu tun«, fauchte sie.
»Dann ist ja gut. Wo komme ich ins Spiel?«
»Ich brauche deine Hilfe. Es geht um unsere Studie. Ich habe die Rohdatenmatrix, aber kann sie nicht gut genug rechnen. Ich verstehe zu wenig davon.«
»Wieso willst du die Daten rechnen? Ist das nicht das Projekt deines Chefs?«
Es war sinnlos, ihm etwas vorzuheucheln. »Ich hab sie geklaut.«
»Nicht in Schwierigkeiten, nein?« Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Das klingt spannend. Ich bin dabei. Ich komme heute Abend zu dir. Mit Hunger.«
Seufzend legte Tessa auf. Tat sie das Richtige? Sie kämpfte um Richtig und Falsch. Hoffentlich kam sie der Antwort heute Abend näher. Wenn sie schon dabei war, dann konnte sie genauso gut das nächste leidige Gespräch hinter sich bringen. Nicht nur sie hatte geklaut. Angeblich bestahl jemand die Patienten. Sie griff zum Telefon, um Schwester Mathilde zu sich zu bitten.
*
Wenig später wusste sie, dass Schwester Mathilde tatsächlich versuchte herauszufinden, ob Philipp die Patienten bestahl. Nichts war mehr, wie sie es noch vor ein paar Tagen kannte. Und dennoch lief der Alltag irgendwie weiter. Die Patienten wollten ihre Therapiegespräche. Mord hin oder her.
Tessa wollte in der heutigen Therapiesitzung mit Kiana eine Imaginationsübung ausprobieren. Sie hatte zusammen mit Paul überlegt, welchen Behandlungsweg sie einschlagen sollte. Sie hatten sich entschieden, Kianas Bitte nachzugeben und sie nicht in ein anderes Krankenhaus zu verlegen. Beide waren sich einig, dass die Stabilisierung der Patientin die unbedingte Voraussetzung war, überhaupt mit der eigentlichen Traumabearbeitung beginnen zu können. Sie hatte Pauls Warnung noch im Ohr. Sollte Oberarzt Neumann tatsächlich dafür sorgen, dass Kiana die Station verlassen musste, durfte Tessa auf keinen Fall mit der Traumakonfrontation beginnen. Sie würde Kiana auf halbem Weg hängen lassen und so ihre Situation noch verschlimmern. Solange, bis klar war, wie viel Zeit ihr mit der Patientin bliebe, solange galt es, die Patientin weitgehend zu stabilisieren. Mehr nicht. Und nicht weniger. Tessa seufzte. Und dann dieser Vorfall mit Philipp und dem falschen Alibi. Dass er sie erpresst hatte, hatte wahrscheinlich den letzten Funken Vertrauen in Kiana ausgelöscht. Tessa konnte es immer noch nicht glauben, dass Phillip das arme Mädchen unter Druck gesetzt hatte. Sie war so zerbrechlich, so labil.
Auch heute saß das Mädchen verschreckt und elend im Sessel. Hielt kaum Augenkontakt aus.
»Kiana, heute möchte ich mit dir eine Imaginationsübung machen. Eine Übung, die dir helfen soll, dich selber besser beruhigen zu können.«
»Was ist Imagination? Davon habe ich noch nie gehört.«
»Imagination ist das Vorstellen von Bildern vor deinem inneren geistigen Auge. Wir haben körperliche Entspannung geübt. Heute sollst du mit geschlossenen Augen innere Bilder entwickeln. Ähnlich wie Traumbilder. Aber
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