Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
dieses Mal kannst du die Bilder beeinflussen und nach deinen Wünschen ausschmücken und verändern. Es sollen gute Bilder sein. Schöne Bilder. Wir wollen einen inneren sicheren Ort für dich finden. Einen Ort zum Wohlfühlen.«
Tessa erklärte ihr, was der innere sichere Ort sein könnte. Mit einfachen Worten beschrieb sie, dass diese Imaginationsübung dazu diente, dem Grauen der Erinnerungen etwas Selbstberuhigendes entgegenzusetzen.
»Wollen wir es ausprobieren? Du kannst jederzeit die Augen öffnen und aufhören, wenn es dir unangenehm wird«, sagte Tessa.
Kiana schluckte, rang sichtbar mit sich und nickte dann. Sie nahm ihr Halstuch ab und legte es sich auf den Schoß. Die Hände darin vergraben.
»Ich bitte dich, die Augen zu schließen. Versuch dich zu entspannen. Halt in deinem Inneren Ausschau nach einem sicheren Ort. Einem Ort, an dem du dich wohl fühlst, den nur du allein betreten kannst. Wenn unangenehme Bilder auftauchen, geh einfach weiter auf der Suche nach einem guten Ort. Lass unangenehme Bilder vorbeifließen wie Blätter auf dem Wasser eines Bachlaufs.« Tessa stoppte und suchte nach Anzeichen der Entspannung bei Kiana. Die saß ruhig und mit geschlossenen Augen da. Gut, dachte Tessa, sie lässt sich darauf ein.
»Manchmal ist der Ort so weit weg, dass man nicht weiß, wie man dorthin gelangen kann. Dann ist vielleicht ein Boot oder ein Flugzeug oder ein magischer Zauberstab hilfreich. Du kannst alles benutzen, was dir hilft, an deinen sicheren Ort zu gelangen.« Tessa machte eine Pause, um der Patientin genug Zeit zu geben, sich auf die Suche zu machen.
»Gib mir ein Zeichen, wenn du das Gefühl hast, dass du einen sicheren Ort gefunden hast. Fühlst du dich dort ganz und gar wohl, sicher und geborgen? Jetzt kannst du bestimmen, welche Lebewesen an diesem Ort sein dürfen. Ich rate dir allerdings, keine Menschen zu deinem Ort einzuladen. Es soll dein Ort sein. Aber vielleicht gibt es liebevolle Helfer und Begleiter, Wesen, die dir alle Liebe und Unterstützung geben, die du brauchst.«
Hatte sie tatsächlich ein kleines Lächeln im Gesicht der jungen Afghanin bemerkt? Tessa war sich nicht sicher, so flüchtig war der Moment gewesen.
»Beschreib mir deinen Ort. Spüre, wie es deinem Körper damit geht, an diesem inneren sicheren Ort zu sein. Was siehst du? … Was hörst du? … Was riechst du? … Was spürst du auf der Haut? … Ist die Temperatur angenehm? Verändere sie, wenn es nötig ist.« Tessa warf einen Blick auf die Uhr. Schon zwanzig Minuten. Sie hätte nie gedacht, dass Kiana sich so bereitwillig darauf einlassen würde. Sie freute sich.
»Wie ist deine Atmung? … Wie geht es deinem Bauch? Tut es dir gut? Wenn nicht, ändere es. Du kannst an deinem Ort zaubern. Du kannst dir alles wünschen, was du magst. Genieße deinen sicheren Ort. Jetzt brauchst du noch ein Zeichen, eine Geste für dich selber, mit dessen Hilfe du jederzeit an deinen sicheren Ort gehen kannst. Führe diese Geste jetzt aus, damit dein Körper sich daran erinnert. Spür noch einmal, wie gut es dir an diesem sicheren Ort geht … und dann öffne die Augen und komm zurück ins Therapiezimmer.«
Nach einer Weile schlug Kiana die Augen auf und sah Tessa verwundert an. Dann lächelte sie. »Es war schön dort.«
»Tatsächlich? Das freut mich. Sehr.« Tessa war unendlich erleichtert. Kiana hatte die Fähigkeit, zu phantasieren, sich einen besseren Ort auszumalen, als sie ihn in der Realität je erlebt hatte. Nicht jeder Mensch hatte diese Fähigkeit. Manche mussten sich sehr anstrengen, andere hatten nur unter Hypnose Zugang zu diesem Teil ihres Unterbewusstseins. Kiana hatte sich einen Ort erschaffen, der auf einem anderen Planeten lag. Sie konnte sich auf dieser Erde keinen sicheren Ort mehr vorstellen. Das machte nichts. Ihr Ort lag in einer besseren Welt. Dorthin konnte sie gehen, wenn die schrecklichen Bilder der Vergewaltigung oder der Flucht vor den Taliban übermächtig wurden. »Wir üben diese Reise an den sicheren Ort, okay?«
Kiana nickte nur, und mit einem Blick auf die Uhr begann sie auf dem Sessel nach vorn zu rutschen. Die Stunde war wie im Flug vorbeigegangen. Tessa wollte ihr gerade zum Abschied zulächeln, als sie erstarrte. Etwas in der Bewegung von Kiana weckte eine Erinnerung. Kiana merkte nichts davon. Sie war gerade dabei, sich ihr Halstuch umzuwickeln. Mit beiden Händen zog sie ihre langen schwarzen Haare unter dem Tuch hervor. Das war es. Tessa wusste es in dieser Sekunde.
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