Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
ihre Hand, um zu signalisieren, dass er da war und zuhörte.
»Sie schaut mich an, als ob sie mich hasst. Sie geht in die Küche. Sie steht an der Spüle und richtet das Messer gegen sich. Es zeigt auf ihren Bauch. ›Ich kann nicht mehr‹, ruft sie immer wieder. Ich will ihr das Messer wegnehmen. Aber sie will es mir nicht geben. Es dauert lange, bis ich es endlich ganz in der Hand habe.«
»Gott sei Dank.« Doch Koster wusste in derselben Sekunde, dass er besser den Mund gehalten hätte. Etwas stimmte nicht. Ihr Blick war unendlich traurig. »Sprich weiter«, flüsterte er.
»Dann verschwimmt das Bild. Ich erinnere mich nur noch an meinen Bruder, der das Blut wegwischte. An mehr erinnere ich mich nicht.«
»Du erinnerst dich? Aber es ist doch ein Traum, oder … ist es real? Und wo kommt das Blut her, du hast ihr doch das Messer abgenommen.«
»Ja, aber sie hielt den Griff. Ich fasste in die Klinge und zog.«
Er atmete scharf ein. Doch er schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er nahm ihre Hand und strich ihr über die Narbe.
Nur langsam normalisierte sich ihr Atem.
»Sie hat es nie wieder probiert. Es war wohl ein heilsamer Schock für sie, dass ihre Tochter …«
»Warum hat sie es getan?«
»Sie hat meinen Vater vermisst. Ein Leben lang. Deshalb liebt sie meinen Bruder Sascha so. Sie sagt, Papa sei meinetwegen gegangen. Die Sorgen wegen der Praxis, und dann noch ein zweites kleines Kind zu Hause … Das wurde ihm zu viel.«
»Du warst ein kleines Mädchen. Wie könntest du schuld daran sein, dass deine Eltern am Leben zerbrochen sind?«
»Bestimmt möchte mein Unterbewusstsein mir damit etwas sagen. Ich verstehe es nur nicht. Vielleicht muss ich besser hinhören. Keine Ahnung.« Ihr Tonfall wirkte wie beiläufig. Zu beiläufig. »Weißt du, ich verrate dir jetzt, was man über die Psychotherapie sagt: Du kannst deine eigenen Neurosen, Ängste, Zwänge und Sehnsüchte wahrnehmen. Du weißt, warum sie entstanden sind. Aber das hilft dir noch lange nicht, dich davon zu befreien. Toll, nicht wahr?«
Sie schmiegte sich in seine Arme, und er wiegte sie sanft. Er hielt sie eng umschlungen, bis sie einschlief.
ACHTER TAG
Tessa wollte sich gerade noch einmal in die Decke kuscheln, als ihr die Erinnerung an die Nacht wie ein Adrenalinschub durch den Körper fuhr. Torben. Seine Hände, seine Berührungen. Sie riss die Augen auf. Der Platz neben ihr war leer. Dafür hörte sie ihn in der Küche mit Geschirr klappern, und es roch nach frischem Kaffee. Sie musste lächeln. Wenn er ihr den Kaffee noch ans Bett brachte, müsste sie ihm einen Heiratsantrag machen. Na ja, oder so etwas Ähnliches. Sie kuschelte sich tiefer in die Decke, nur um gleich wieder daraus hervorzutauchen und sich sein Kopfkissen ins Gesicht zu ziehen. Sie suchte und fand seinen Duft. Mit einem Lächeln streichelte sie über das Kissen. Allerdings gab es anscheinend keinen Kaffee an ihrem Bett. Nur ungern löste Tessa sich von seinem Kissen, stand auf und öffnete das Fenster. Die kalte Luft ließ sie hektisch nach ihrem Bademantel suchen. Er lag vergessen auf dem Boden halb unter dem Bett. Sie hatte gestern Abend Besseres zu tun gehabt, als ihn ordentlich über einen Stuhl zu legen. Ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Barfuß tappte sie in die Küche und fand Torben frisch geduscht und angezogen in einem Haufen Papiere wühlend. Ob er wohl etwas gegen einen verschlafenen Kuss einzuwenden hatte? Tessa probierte es lieber nicht aus, sondern setzte sich artig auf den Stuhl am anderen Ende des Tisches.
»Guten Morgen. Du bist früh auf.«
»Guten Morgen. Ich habe dich schlafen lassen, du hattest eine kurze Nacht.« Für einen Augenblick verzog er amüsiert die Lippen. Dann wurde er wieder ernst. »Ich muss gleich los. Wir nehmen heute Speichelproben von allen Patienten und vom Personal eurer Station ab«, erklärte er.
Warum kam er nicht zu ihr? Sie blickte ihn an. Sie wusste, dass er noch nicht fertig war.
»Hör zu, ich bewege mich auf dünnem Eis. Genau genommen bin ich bereits eingebrochen.« Er rang sichtlich nach Worten. »Du ermittelst auf eigene Faust. Du brichst bei deinem Chef ins Büro ein und stiehlst Daten. Du besprichst das mit deinem Bruder, der eine ganz unklare Rolle spielt, ja? Ich erfahre das alles irgendwie. Das geht nicht. Es geht einfach nicht. Ich muss dich bitten, dich aus den Ermittlungen rauszuhalten. Es ist zu gefährlich. Ich durchschaue nicht, was hier vor sich geht. Bitte! Ich bin dir dankbar für
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