Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
plötzlich. Und das nicht wegen der Tür, die offen stehen geblieben war.
»Darf ich reinkommen?« Ein schüchternes Stimmchen holte Tessa wieder zurück in die Realität. Kiana Chavari war pünktlich zu ihrer Therapiestunde erschienen.
»Entschuldige bitte, was David Brömme gerade zu dir gesagt hat. Er ist sauer auf mich – und hat es an dir ausgelassen«, sagte Tessa und seufzte. »Es ist meine Schuld.«
Sie saß Kiana in der Sitzecke gegenüber, und erstmals ging das Mädchen direkt darauf ein.
»Ich fühle mich auch schuldig. Heute besonders. Ich weiß nicht, warum.«
»Was wirfst du dir denn vor, Kiana?«
»Ich hätte niemals in das Auto der Männer einsteigen dürfen. Ich hätte mich wehren müssen. Dann wäre das alles nicht passiert.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und vor allem hätte ich meiner Mutter nie etwas davon erzählen dürfen. Nur deshalb hat meine Mutter die Schuld und Schande, die ich über die Familie gebracht habe, mit in den Tod genommen.«
»Du wirfst dir also vor, dass du hättest wissen müssen, was passiert, wenn du zu den Männern ins Auto steigst, richtig? Und du hättest also die Aufforderung nicht annehmen sollen?« Tessa hielt kurz inne, um die entscheidende Frage zu formulieren. Sie wollte Kiana nicht mit ihrer Sichtweise konfrontieren, sondern ihr helfen, eine eigene, neue Perspektive zu entwickeln. »Welche Gründe hattest du, ins Auto zu steigen?«
»Ich hatte Angst vor ihnen. Sie haben mich angeschrien.« Kiana rutschte auf die vordere Kante des Sessels.
Sie ist kurz davor zu flüchten, dachte Tessa. »Du musstest in einer Extremsituation schnell reagieren. Du hattest keine Zeit. Wer war sonst noch da? Was war um dich herum?«
»Nichts. Ich ging auf der kleinen Schotterstraße, die zu unserem Haus führt. Da war niemand.«
»Es hätte also niemand bemerkt, wenn du nicht eingestiegen wärst? Niemand hätte helfen können?« Tessa versuchte, die übertriebenen Schuldgefühle von Kiana in ein neues Licht zu rücken. Sie sah nicht, dass die Männer sie missbrauchen wollten . Sie hatten sich bereits über alle Tabus hinweggesetzt. Bei mehr Widerstand hätten sie Kiana vermutlich einfach erschossen. Sie jedoch glaubte, jedes andere Verhalten wäre besser gewesen.
»Nein.«
»Was passierte dann?«
»Sie haben mich zwischen sich gesetzt.« Kiana hielt sich die Hand vor den Mund. »Sie haben gesagt, sie töten mich, wenn ich nicht mache, was sie sagen.«
»Was weißt du heute?« Tessa bekam keinen Augenkontakt zu Kiana.
»Was meinen Sie?« Sie starrte auf den Boden.
»Du hast es überlebt. Kannst du noch etwas weitererzählen?«
»Sie haben angehalten. Sie haben mir den Mund zugehalten, ich habe kaum Luft bekommen.«
»Du hattest das Gefühl zu ersticken?«
Kiana wiegte den Kopf. »Mir ist schlecht.«
»Was denkst du jetzt gerade?«
»Ich konnte nichts tun.« Kiana würgte.
»Ja. Du konntest nichts tun und musstest es über dich ergehen lassen. Du konntest dich nicht wehren.«
»Ich hatte solche Angst. Sie haben gedroht, mich umzubringen.«
»Und hast du geglaubt, dass sie dich töten?«
»Ja, das habe ich.« Kiana stutzte. »Es war real.«
»Schau es dir an, Kiana: drei Männer. Weit und breit keine Hilfe, keine anderen Menschen. Du hattest wahnsinnige Angst, dass sie dich umbringen. Sie waren zu dritt. Sie waren stärker. Sie waren bewaffnet. Das war real. Diese große Angst hat zum Aushalten geführt. Wie sehr kannst du dir dafür Vorwürfe machen, dich nicht gewehrt zu haben?«
»Bedeutet das, dass ich nichts hätte ändern können?«
»Was meinst du?«
»Es wäre passiert.« Kiana schluckte. »Ja, es wäre so oder so passiert.«
»Was bedeutet das?«
»Dass ich keine Schuld habe. Die Taliban sind schuld.«
»Ja. Genau. Du hast keine Schuld.« Kianas Anspannung schien etwas nachzulassen. Die Beine zitterten nicht mehr. Tessa gab ihr einen Moment, um die Erkenntnis sacken zu lassen. Dann fragte sie behutsam: »Kannst du noch etwas weiter?«
Kiana nickte stumm.
»Was passierte dann?«
»Ich wollte nur nach Hause. Zu meiner Mama.«
»Deine Mutter war zu Hause? Sie machte dir die Tür auf. Du warst verletzt, deine Kleidung zerrissen, blutig, dreckig …«
»Ja.« Kiana sank in sich zusammen. »Ich wollte nur in ihre Arme.«
»Was glaubst du, hat deine Mutter gedacht, was dir passiert ist?«, fragte Tessa leise.
»Sie wusste es«, flüsterte Kiana.
»Genau. Sie wusste es. Du hast keine Entscheidung getroffen.«
»Ich hätte lügen
Weitere Kostenlose Bücher