Nacht ohne Ende
für ein Typ ist dieser Calloway? Der typische beinharte Bulle?«
»Er ist sehr kühl und sachlich, das auf jeden Fall. Aber er klingt ganz vernünftig. Dendy dagegen ist ein tobender Irrer. Ich konnte ihn im Hintergrund Drohungen brüllen und Ultimaten stellen hören.« Tiel blickte zu Ronnie hinüber, der seine Aufmerksamkeit zwischen dem Parkplatz und dem mexikanischen Duo teilte, das zunehmend nervöser und unruhiger wurde. »Er wird uns doch nicht erschießen, oder?«
Doc hatte es anscheinend nicht eilig, ihre Frage zu beantworten; er wechselte die blutdurchtränkten Unterlagen aus und schob Sabra ein paar frische unter, dann lehnte er sich gegen die Tiefkühltruhe und zog ein Knie an. Er stützte seinen Ellenbogen darauf und strich sich müde mit einer Hand durchs Haar. Nach großstädtischen Modemaßstäben hätte er dringend einen Haarschnitt vertragen können. Aber bei ihm, speziell in dieser Umgebung, war der unordentliche Look irgendwie passend.
»Ich weiß nicht, wie er sich verhalten wird, Miss McCoy. Es hat mich schon immer fasziniert und zugleich abgestoßen, wie viel Leid Menschen einander zufügen können. Ich persönlich glaube zwar nicht, dass der J unge fähig ist, uns an die Wand zu stellen und zu erschießen, aber das ist keine Garantie dafür, dass er es nicht doch tun wird. Jedenfalls wird Reden keinen Einfluss darauf haben, wie diese Sache am Ende ausgeht.«
»Das ist aber eine ziemlich fatalistische Einstellung.«
»Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt.« Er zuckte gleichmütig die Achseln. »Wir müssen nicht darüber reden.«
»Worüber möchten Sie dann reden?«
»Über nichts.«
»Quatsch«, sagte sie, um ihn zu überraschen, was ihr auch gelang. »Sie wollen wissen, wie ich Sie erkannt habe.«
Er blickte sie lediglich an und schwieg. Er hatte eine ziemlich dicke Schutzmauer um sich herum errichtet, aber es gehörte unter anderem eben auch zu ihrem Job, unsichtbare Mauern zum Einsturz zu bringen.
»Als ich Sie vorhin in den Laden kommen sah, hatte ich das Gefühl, dass Sie mir irgendwie vage bekannt vorkamen, aber ich konnte Sie nicht unterbringen. Dann, irgendwann während des Geburtsvorgangs, kurz vor der Entbindung, dämmerte mir auf einmal, wer Sie sind. Ich glaube, es war die Art, wie Sie mit Sabra umgegangen sind, die Sie verraten hat.«
»Sie haben ein sehr bemerkenswertes Gedächtnis, Miss McCoy.«
»Tiel. Es kann durchaus sein, dass mein Gedächtnis besser ist als das von Lieschen Müller oder Gabriele Mustermann. Aber wissen Sie, ich habe damals über Ihre Story berichtet.«
Er murmelte einen Fluch. »Dann waren Sie also auch unter den Scharen von Reportern, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben?«
»Ich bin einfach nur gut in meinem Job.«
Er schnaubte missbilligend. »Darauf wette ich.« Er streckte seine langen Beine aus, aber seine Augen hielten die ihren unverwandt fest. »Gefällt Ihnen denn das, was Sie tun?«
»Sehr.«
»Es macht Ihnen Spaß, Menschen auszubeuten, die bereits am Boden sind, ihr Elend dem neugierigen, sensationslüsternen Blick der Öffentlichkeit zu präsentieren und es ihnen damit unmöglich zu machen, wenigstens die Scherben ihres bereits zerstörten Lebens aufzusammeln?«
»Sie geben den Medien die Schuld an Ihren Schwierigkeiten?«
»Zum großen Teil, ja.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel ist das Krankenhaus von der negativen Publicity förmlich erdrückt worden. Einer negativen Publicity, die von Leuten wie Ihnen erzeugt und verstärkt wurde.«
»Sie haben diese negative Publicity selbst erzeugt, Dr. Stanwick.«
Verärgert drehte er den Kopf weg, und Tiel erkannte, dass sie unangenehme Erinnerungen in ihm heraufbeschworen hatte.
Dr. Bradley Stanwick war ein namhafter Onkologe gewesen, der in einem der fortschrittlichsten Krebsbehandlungszentren der Welt praktiziert hatte. Die Patienten waren aus sämtlicher Herren Länder gekommen, in den meisten Fällen Hilfe Suchende im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit, die ihre letzte Hoffnung auf Spezialisten wie Stanwick setzten, um dem Tod zu entrinnen. Seine Klinik konnte sie natürlich nicht alle retten, aber sie hatte einen ausgezeichneten Ruf, die verheerenden Auswirkungen von Krebserkrankungen hinauszuzögern und Leben zu verlängern, während sie ihren Patienten gleichzeitig zu einer Lebensqualität verhalf, die ihr Leben länger lebenswert machte.
Aus ebendiesem Grund war es eine solch grausame Ironie, als Bradley Stanwicks junge, schöne, temperamentvolle
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