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Nacht ohne Erbarmen

Nacht ohne Erbarmen

Titel: Nacht ohne Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Higgins
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eisenbeschlagenen Eichentor hinaufführte.
      Ich glaube, bis zu diesem Augenblick war mir das alles noch irgendwie unwirklich erschienen. Ich war wieder zu Hause, darauf lief es hinaus, und es war ein Stück von mir – ein wesentliches Stück. Aber das wollte ich nicht wahrhaben.
      Burke stieg nach mir aus, dann wies Marco den Fahrer Ciccio an, den Mercedes auf den Hof hinter dem Haus zu fahren. Der Wagen glitt fast geräuschlos davon.
      Ich drehte mich um und sah meinen Großvater am oberen Ende der Treppe stehen.
      Er war ebenso groß wie Burke und wirkte nur deshalb ein bißchen kleiner, weil das Alter seine Schultern ein wenig gekrümmt hatte. Er mußte inzwischen siebenundsechzig oder achtundsechzig Jahre alt sein, aber sein volles Haar und der sorgfältig gestutzte Bart wiesen noch Farbe auf.
      Er hatte ein bemerkenswertes Gesicht. Rücksichtslosigkeit lag darin, Arroganz, aber auch Stolz und eine durchdringende Intelligenz. Er war so elegant gekleidet wie immer. Viele der Capos der Mafia aus der alten Zeit liefen in Gesellschaft so schlampig und verkommen wie nur möglich herum, um damit ihre Macht und Bedeutung zu dokumentieren, aber nicht so Vito Barbaccia. Der Pächterssohn hatte die Lumpen schon vor langer Zeit abgelegt.
      Er trug einen leichten, cremefarbenen Anzug, dem man von weitem den Londoner Schneider ansah, dazu ein rosafarbenes Hemd und einen dunkelblauen Seidenschlips. Seine Zigarre war so dick wie immer, und auch an den Spazierstock aus Ebenholz erinnerte ich mich noch gut. Wenn es derselbe wie früher war, dann steckte ein halber Meter rasiermesserscharfer Stahl darin.
      Er sagte kein Wort, als ich langsam die Treppen hinaufging. Ein paar Stufen unter ihm blieb ich stehen. Er sah auf mich herab, immer noch ohne ein Wort, und öffnete dann seine Arme.
      Die alte Kraft war immer noch vorhanden. Er hielt mich eine ganze Weile fest, dann gab er mir den gebräuchlichen Begrüßungskuß auf jede Wange und schob mich ein Stück von
    sich.
      »Du bist gewachsen, Stacey – bist groß geworden, mein Junge.«
      Ich winkte Burke heran und stellte ihn vor. Meine Stimme schien einem Fremden zu gehören und wie aus großer Wasser tiefe an meine Ohren zu dringen, meine Augen brannten. Er spürte meine innere Spannung, drückte meinen Arm und schob seinen darunter.
      »Komm, wir gehen jetzt hinein. Oberst, Marco wird Ihnen etwas zu trinken geben, während ich mich einen Augenblick mit meinem Enkel unterhalte.«
      Meine Kehle war ausgetrocknet, als wir durch das breite Tor traten. Seltsam, daß man die Menschen, die einem wirklich nahestehen, immer lieben muß, gleichgültig, was sie auch getan haben mögen.

    Als ich seine Bibliothek betrat, war es wie ein Schritt zurück in die Vergangenheit. Der Raum wirkte auf mich so eindrucksvoll wie eh und je. Die Wände standen voller Bücher, von denen er die meisten gelesen hatte. Im offenen Kamin knisterte ein Feuer. Es klang laut in der Stille des Raums. Von der Wand sah mich das Ölgemälde meiner Mutter an. Ich muß etwa vierzehn gewesen sein, als er es bei einem englischen Künstler in Auftrag gab. Auch ich war vertreten – in gerahmten Fotos, die jedes Stadium meiner Jugend wiedergaben.
      Der Flügel stand immer noch neben dem Fenster. Der große Bechstein-Konzertflügel, den er für mich hatte aus Deutschland kommen lassen. Das Beste war gerade gut genug. Ich ging hin, sah auf die Tasten herab und schlug ein paar Töne an.
      Hinter mir ging die Tür auf und schloß sich wieder. Als ich mich umdrehte, beobachtete er mich. Wir standen da und sahen uns über die ganze Breite des Zimmers hinweg an, und mir fiel um alles in der Welt kein passendes Wort ein.
      Wieder einmal spürte ich sein enormes Einfühlungsver mögen. Er wußte es und lächelte. »Spiel etwas, Stacey, der Flügel ist gestimmt. Ich lasse regelmäßig einen Klavierstimmer aus Palermo kommen.«
      »Ist lange her«, sagte ich. »Da, wo ich war, hat es keine solchen Klaviere gegeben.«
      Er blieb wartend stehen. Ich setzte mich an das Instrument und begann nach einer Weile zu spielen. Ravel – Pavane auf den Tod einer Infantin. Erst als ich schon halb fertig war, fiel mir ein, was ich da spielte: Halb unbewußt hatte ich das Stück gewählt, das ich am Abend vor der Beerdigung meiner Mutter in diesem Hause angeschlagen hatte – ihr Lieblingsstück.
      Ich stockte. Da befahl er streng: »Los, weiter!«
      Dann ergriff die Musik Besitz von mir,

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