Nacht ohne Schatten
nüchternen Magen, ihr Herz pumpt in ungesunden StöÃen. Sehnsucht. Ich sehne mich nach etwas, denkt sie und schlieÃt für einen Moment die Augen. Sie geht zur Toilette, wäscht sich das Gesicht, entdeckt erst jetzt, wie schmutzig sie ist. Ein zweiter Körper nah an ihrem, danach sehnt sie sich. Ein männlicher Körper, so ist das nun mal. Nicht mehr alleine kämpfen müssen, aufwachen, arbeiten, schlafen, immer wieder von vorn. Sie streicht ihre verfilzten Locken aus der Stirn. Du bist übermüdet, Judith Krieger, übermüdet, überarbeitet, unterzuckert, und vor allem hast du einen Job zu erledigen. Krieg jetzt nicht auch noch eine Midlifecrisis.
Unten in der Kantine bestellt sie sich ein Omelette und ein Käsebrötchen. Das Omelette ist überraschend frisch, der Schnittlauch darauf kein bisschen welk. Sie isst langsam, trinkt zwei Gläser Orangensaft dazu, kauft sich zum Schluss noch einen Apfel und einen Becher Milchkaffee, nimmt beides mit hinauf in ihr Büro. Sie isst den Apfel, während sie die Namen derer, die am Vorabend in Thea Markusâ Atelier standen, nacheinander erst ins Bundeszentralregister und dann in PO-LAS eintippt, das polizeiliche Auskunftssystem, das ihnen seit ein paar Jahren die bundesweite Fahndung erleichtert. Gero Sanders. Theodora Markus. Paul Klett. Alexander Nolden. Auch Nanette Dannen fügt sie hinzu.
Der Künstler Paul Klett hat einen unehelichen Sohn, ist zweifach geschieden und hat im letzten Jahr einen Monat lang seinen Führerschein wegen zu schnellen Fahrens abgeben müssen. Sanders, Nada und Thea Markus sind ledig und kinderlos. Alexander Nolden ist in zweiter Ehe verheiratet. Niemand hat Vorstrafen, ist zur Fahndung ausgeschrieben, in ein laufendes Rechtsverfahren verwickelt oder gar zu einer Haftstrafe verurteilt. Niemand hat laut Auskunftssystem eine Vergangenheit im Prostitutionsgewerbe. Auch die Ãberprüfung weiterer Künstler und Journalisten, die am Vorabend in der Kunstfabrikwaren oder dort ein Atelier gemietet haben, fördert nichts zutage, was im Entferntesten einen Verdacht auf Brandstiftung oder gar Mord rechtfertigen würde.
Judith beendet die Suchprogramme. Warum ist sie so stur, warum stellt sie sich quer? Verdirbt es sich mit allen, nein, mehr noch, stellt sich blo� Sie denkt an ihre Träume, die ihr vielleicht eine Antwort darauf geben, oder einen Hinweis für die Ermittlungen, so wenig wahrscheinlich das ist. Sie ruft einmal mehr die Website der Fallschirmschule Happy-Fly auf, starrt auf die Gestalten mit den ausgebreiteten Armen, Menschen mit froschaugenartigen Schutzbrillen und bunter Kleidung, die grotesk grinsend aus dem immer blauen Himmel fallen. Vielleicht ist die Fallschirmschule tatsächlich pleitegegangen und ruft Judith deshalb nicht zurück. Das wäre endlich mal eine gute Nachricht.
Sie schaltet ihren Computer aus, beschlieÃt, sich das Messer von der Kriminaltechnik zu holen. Widerstrebend rücken die Kollegen es heraus. Die äuÃere Untersuchung ist zwar abgeschlossen, die Laboranalysen werden aber noch dauern.
»Ich werde vorsichtig sein.« Sie winkt den Kollegen zu, holt einen Wagen im Fuhrpark, steuert ihn einmal mehr zum Eigelstein, die sehnsüchtigen Melodien von My Brightest Diamond im Ohr. Gehört diese Verlorenheit zum Rätsel um Nadas Verschwinden? Oder ist sie so cool, wie alle sie beschreiben: attraktiv, erfolgreich, selbstbewusst. Eine junge Frau, die sich nimmt, was sie begehrt. Doch Erfolg muss nicht glücklich machen. Niemand ist vor Verzweiflung gefeit.
Sie findet einen Parkplatz, betrachtet das unauffällige Mietshaus, in dem Nada lebt â allein, wie so viele in Köln und anderswo. Singles, die glauben, es nicht anders zu wollen. Singles, die in früheren Lebensentwürfen zu zweit gescheitert sind oder sie gar nicht erst wagten. Singles mit einem groÃen Freundeskreis und einem Job und einem durchorganisierten Freizeitprogramm. Menschen, die letztendlich trotzdem auf der Suche sind. Nach Sex. Nach Nähe. Was ist der Endpunkt, fragt Judithsich, während sie die Treppen hinaufsteigt. Couchabende mit Hollywoodschnulzen? Betrunkene One-Night-Stands? Abenteuer als Callgirl? Ein Besuch im Puff? Die Nabelschau einer beinahe 40 -jährigen Kommissarin?
»Sieht nicht so aus, als ob auÃer dem Laptop irgendwas fehlt«, berichtet der Kriminaltechniker Klaus Munzinger. »Zahnbürste, Pille,
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