Nacht ohne Schatten
nickt, wünscht sich weit weg, zumindest in ihr Arbeitszimmer, besser gleich hinunter in den Keller zu den Toten. Sie muss noch bei einer Obduktion assistieren, bevor sie zu der Podiumsdiskussion fährt. Auf dem Weg dorthin wird sie für Tjuollda einkaufen gehen. Am Morgen hat sie ihn mit Rinderhack gefüttert, das sie noch im Tiefkühlfach hatte. Der Kater ist nur ein Gast, aber es fühlt sich an, als gehöre er zu ihr. Wenn nur die Sorge um Ines nicht wäre. Nein, nicht Sorge, eher eine Art Unruhe.
»Hochverehrte Judith!« Karl-Heinz Müllers Begeisterungsausbruch reiÃt Ekaterina aus ihren Grübeleien. »Lasagne, Tortellini, Gnocchi, was darf es sein?«
»Gar nichts, ich hab spät gefrühstückt.« Die Kommissarin nickt Ekaterina zu und platziert ihren Hintern vorsichtig auf der Kante eines völlig überladenen Beistelltischs. Es wird Ekaterina immer ein Rätsel bleiben, wie ein Mann, der so penibel arbeitet und adrett gekleidet ist wie ihr Chef, in einem solchen Chaos arbeiten kann.
Judith Krieger sieht blass aus, noch blasser als sonst, und verströmt einen durchdringenden Brandgeruch.
»Swetlana und Wolfgang Berger sind mit dem identischen Erreger einer Geschlechtskrankheit infiziert, Ekaterina hat das herausgefunden«, sagt Karl-Heinz Müller.
»Es kann ein Hinweis sein, dass die beiden ungeschützten Verkehr hatten«, ergänzt Ekaterina und denkt wieder einmal, was für ein merkwürdiges Wort Verkehr für einen Sexualakt eigentlich ist. Doch was weià sie schon davon, sie hat das schlieÃlich nie probiert.
Judith Krieger wirkt keineswegs so, als ob sie sich über diese Mitteilung freut. Wortlos zerrt sie einen in einer Plastiktüte verpackten Gegenstand aus ihrer abgeschabten Lederhandtasche. »Die Tatwaffe, könnte sie das sein?«
Karl-Heinz Müller pfeift durch die Zähne. »Ein Fall für dich, Ekaterina.«
Ekaterina hält ihren Plastikteller von sich weg und schafft es tatsächlich, auf die Beine zu kommen, ohne sich zu bekleckern. Sie will ganz sichergehen, holt erst den Obduktionsbericht aus ihrem Büro.
»Nicht anfassen«, mahnt Judith Krieger nervös, als Ekaterina sich über das Messer beugt. »Die KTU hat zwar schon Proben genommen, aber â¦Â«
Karl-Heinz Müller grinst. »Du hast es eilig wie immer.«
»Es gibt keine Fingerabdrücke darauf, aber Blutreste.« Die Kommissarin zieht für Müller eine Grimasse.
Ekaterina vermisst das Messer, vergleicht alle Ergebnisse genau mit den Unterlagen. »Es passt exakt zu den Stichkanälen und Abdrücken«, sagt sie, als sie fertig ist. »Was ist das für ein Messer?«
»Ein Schnitzmesser. Künstlerbedarf.« Sehr sorgfältig wickelt Judith Krieger das Messer wieder ein.
Künstlerbedarf. Ekaterina erstarrt. Ich wollte einmal Malerin werden. Ganz deutlich hat sie Inesâ Worte im Ohr. Soll sie Judith Krieger von Ines erzählen? Ines hat ein Recht auf Anonymität, und davon abgesehen offenbart ihre unvollständige Akte vor allem Ekaterinas Versäumnisse. Andererseits â¦
»Wir fahnden nach einer Künstlerin, Nada, Nanette Dannen, die seit der Ermordung Wolfgang Bergers verschwunden ist«, sagt Judith Krieger. »Sie arbeitet in einem Atelier neben dem Bahndamm.«
Nada. Nanette. Nicht Ines. Ekaterina räuspert sich. »Wie sieht diese Frau denn aus?«
»Ich habe Fotos, hier. Ihr lagert sie nicht zufällig unten in eurem Keller?«
»Die schöne Fremde? Bedaure, nein.« Karl-Heinz Müller lacht.
Es ist nicht Ines, sondern eine andere Frau, die Ekaterina noch nie gesehen hat. Sie gibt der Kommissarin das Foto zurück, denkt an die Würgemale auf Inesâ Hals, das Blut auf ihrer Wäsche, die Angst in ihren Augen, die sich so unverhofft in Kälte wandeln kann. Sie fühlt Judith Kriegers Blick auf sich. Prüfend. Forschend, wie vor ein paar Tagen, als sie über Russland sprachen. Ekaterinas Unruhe wird stärker. Sie muss diese Ines finden, sich vergewissern, dass es ihr gut geht. Sie weià nur nicht, wie.
* * *
»Gehört das Ihnen, Frau Markus?«
Ungläubig starrt Thea auf das in einer durchsichtigen Plastiktüte liegende Schnitzmesser.
»Woher haben Sie das?«
»Beantworten Sie bitte meine Frage.« Die Stimme der Kommissarin Krieger schneidet.
Thea schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht, ich dachte, alles
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