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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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der Kater so tut, als sei er bei Ekaterina zu Hause.
    Feige, sie ist feige, das ist, was sie ist. Sie hat am Kanal nicht gefragt, ob jemand Ines kenne, weil sie sich plötzlich wieder fremd fühlte zwischen all den herausgeputzten Spaziergängern und vornehmen Villen. Weil sie sich albern vorgekommen wäre. Außerdem hat sie versucht, dem Kommissar Korzilius seine Bitte abzuschlagen. Und obwohl er ihr schließlich die Zusage abgerungen hat, ist Ekaterina noch keineswegs sicher, dass sie ihn heute Abend tatsächlich begleiten wird.
    Feigheit, die Seuche der Insel im weißen Meer. Nicht wahrhaben wollen, übersehen, ignorieren, über Leichen gehen. Ekaterina hat sich lange eingebildet, sie selbst sei davor gefeit, denn sie hatte das Klagen der Birken schließlich gehört. Dabei ist sie auch nur geflohen. Fort von der Insel, ihrer Großmutter,
    ihrem Land. Sie hat sich stark gefühlt, weil sie die Toten nicht fürchtete, und hat darüber die Lebenden ignoriert.
    Du hörst nichts, Ekaterina, du siehst nichts, du bildest dir das ein. Hat ihr Vater das wirklich geglaubt? Und die Mutter, hat auch sie nichts geahnt und gehört von den Klagen der Toten? Die Traurigkeit nicht gespürt, die über den Solowetzkij- Inseln lag, die sich mit dem ewigen, eisigen Wind immer fester um die Birken wand, ein zäher, schwarzer Schleier? Sie hätten doch Knochen finden müssen, beim Pflügen, beim Bauen, die Gebeine waren doch überall, überlegt Ekaterina. Sogar sie selbst, ein kleines Mädchen von nur vier oder fünf Jahren, hat beim Buddeln im sandigen Boden hin und wieder ein bleiches Bröckchen zutage gefördert. Mal einen Fingerknöchel, mal einen Schädelsplitter, einmal sogar einen Rückenwirbel.
    43 000 Tote. Das Geheimnis der Insel im weißen Meer. Verhungert. Zu Tode geprügelt. Entkräftet von der Zwangsarbeit. Erfroren. An Seuchen krepiert. Gefoltert. Erschossen. Verscharrt. Künstler. Musiker. Intellektuelle. Mönche. Priester. Altgläubige. Andersdenkende. Menschen, die Stalin ausmerzen wollte, weil sie nicht zu seinem Ideal vom Arbeiter-und- Bauern-Staat passten, oder weil jemand sie denunzierte.
    Solowetzkij, die heilige Inselgruppe. Sechzig Kilometer von der karelischen Küste entfernt. Eine uralte Hochburg des Glaubens im salzigen Meer. Die Reste heiliger Steinlabyrinthe auf Solowetzkij sind über 4000 Jahre alt. Ab 1582 entstand auf der Hauptinsel eine der größten Klosteranlagen nördlich des Polarkreises, die bald zum heiligen Zentrum für die Menschen auf dem Festland wurde, zum Ziel unzähliger Pilger. Ikonen wurden hier gemalt. Die größte Glocke der Kirche konnte man noch auf dem Festland schlagen hören.
    1919 wurde das Kloster geschlossen, 1923 in Brand gesetzt. Niemand weiß, was die Flammen fraßen und welche Schätze Stalins Schergen vorher stahlen. Was blieb, die meterdicken Steinmauern, diente Stalin als erster Gulag, perfekt isoliert durch die See, die auch im Sommer zu kalt war, um sie zudurchschwimmen, und selbst im tiefsten Winter niemals ganz gefror. Sechs Jahre lang gab es für die Solowetzkij-Häftlinge kein Entkommen. Dann verlegte Stalin die Lager nach Sibirien. Die Inseln im weißen Meer wurden Militärstützpunkt und nach dem Krieg wieder mit Fischern und Bauern besiedelt, ahnungslosen Menschen, denen niemand sagte, dass sie auf der Insel der Toten lebten. Menschen, die zeit ihres Lebens vielleicht ein bisschen trauriger waren, vielleicht auch grausamer, als sie es anderswo geworden wären, wer weiß das schon? Menschen, die ihr Leben hinnahmen und nichts hinterfragten und erst, als die UdSSR zerbrach, erfuhren, wo sie all die Jahre gelebt hatten, mit wem, und es auch dann nicht richtig begriffen.
    Ekaterinas Telefon klingelt, reißt sie aus ihren Gedanken. Sie hebt ab, meldet sich, fühlt sich dabei, als würde sie neben sich stehen.
    Â» 22 Uhr«, sagt der Kommissar Korzilius. »Ich hole dich ab. Ist das okay?«
    Ekaterina denkt an die Toten. Dann an die Lebenden. Kloster der Verklärung, so hatten die Mönche im Mittelalter ihr Kloster genannt. Vielleicht ist es an der Zeit, zu sehen.
    Â»Okay«, sagt sie.
    * * *
    Manni stemmt die Füße gegen die Schreibtischkante. Sein gestriges Gespräch mit Sonja spult sich in seinem Kopf ab, wieder und wieder, wie in einer verdammten Endlosschleife, wie in diesem dämlichen Liebesfilm mit dem

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