Nacht ohne Schatten
Gesicht zu sehen. Auch er muss mit Swetlana geschlafen haben, auch sein Chlamydientest ist positiv. Ekaterina verharrt zwischen den beiden Ermordeten,empfängt ihre Energie, so wie sie es am Nachmittag an Swetlanas Krankenbett getan hat. Sie atmet jetzt ruhiger, lässt ihre Gedanken kommen und wieder gehen. Gedanken an Ines, die sie nicht findet, die Sorge über das, was ihr geschehen sein könnte. Erinnerungen an die Insel und das Gift der Feigheit. Sehnsucht nach einer Liebe, lange vergessen, nie erfüllt. Gedanken an ihre GroÃmutter und die Kraft, die sie umgibt, sobald sie Mantel und Trommel ergreift.
Einatmen, ausatmen, ein, aus. Vorhin hat Cornelia Offinger angerufen und Ekaterina gebeten, für Judith Krieger ein paar Namen zu prüfen. Rebecca Nolden. Marlene Nolden. Nanette Dannen. Keiner der Namen ist in der Kartei registriert. Einatmen, ausatmen. Ruhig werden, konzentriert. Morgen wird sie sich mit Ines beschäftigen. Jetzt geht es darum, Swetlana zu rufen, auch wenn das verrückt ist, auch wenn Ekaterina bezweifelt, dass ihr das gelingt. Einatmen, ausatmen, ein, aus. Den ganzen Tag hat sie sich davor gefürchtet, vielleicht sogar ihr ganzes Leben.
Ekaterina schiebt die Metallbahren der toten Männer zurück in die Wand, schlieÃt für einen Moment die Augen. Du darfst keine Angst haben, Katjuschka. Ganz plötzlich erfüllt die Stimme den Keller, so nah, als wäre die GroÃmutter hier. Weià sie, was Ekaterina hier tut, heiÃt sie es gut, will sie sie unterstützen? Ekaterina verlässt den Kühlraum, geht zum Kellerausgang hinaus in die Nacht. Ein anderes Summen liegt hier in der Luft, rastlos, getrieben, der Klang der Stadt. Möglichst lautlos tritt Ekaterina auf den jüdischen Friedhof, und auch wenn sie weiÃ, dass das physikalisch unmöglich ist, fühlt sie sofort, dass es um sie herum stiller wird.
Ein Schritt, noch ein Schritt, einatmen, ausatmen. Der Fuchs schnürt herbei, wittert, verharrt. Er hat überhaupt keine Scheu vor ihr, sieht sie einfach an, fast so, als grüÃe er sie. Ekaterina sieht ihm ins schmale Gesicht, denkt an Swetlana dabei. Ein schönes Mädchen mit einem Traum, so verwundet, dass sie zwischen den Welten verloren ging. Ein Joik ist nicht einfachein Lied, das du über etwas singst, hat ihr die GroÃmutter erklärt. Ein Joik kommt aus deinem tiefsten Inneren, verbindet dich mit den Seelen der Welt. Du joikst die Traurigkeit oder das Glück. Du joikst einen See, den Wald, die Sterne, den Schnee. Und wenn du sehr gut joikst und dich sehr konzentrierst, schaffst du es vielleicht, die Seelen von Menschen zu rufen, die du auf andere Art nicht mehr erreichen kannst.
Die alte Sprache, die alten Rhythmen. Nie hat Ekaterina sie benutzt, und doch sind sie ihr vertraut. So oft hat sie der GroÃmutter zugehört. Wenn das Polarlicht über den Himmel zuckte. Wenn die Mitternachtssonne den See in Zwielicht tauchte. Wenn sie am Feuer um Heilung für einen Nachbarn bat. Du musst den Joik fühlen, Katjuschka, hat die GroÃmutter erklärt. Er ist nicht Gesang, nicht Gejodel, nicht Gebet, er ist etwas Eigenes, und wenn der Joik gelingt, von allem ein Stück.
Es ist dieses alte Wissen, uralt, archaisch, das jetzt in Ekaterinas Kehle drängt, so selbstverständlich, als sei ein Joik für sie nichts anderes als eine Obduktion. Ein Lufthauch streift sie, dunkel und kühl. Ihr Herz beginnt zu rasen, als sie die schwarze Silhouette in der Platane entdeckt. Ein Rabe. Das zweite Krafttier ihrer UrgroÃmutter. Oder träumt sie nur?
* * *
Der dunkle Audi folgt ihnen schon, seit sie die Innenstadt hinter sich gelassen haben und durch menschenleeres Industriegebiet kurven, am Rheinhafen vorbei, dann jenseits der Pferderennbahn Richtung Müllverbrennungsanlage. Manni verlangsamt das Tempo und schaut in den Rückspiegel. Ein Audi TT, wenn ihn nicht alles täuscht. Das Kennzeichen ist nicht lesbar, unbeleuchtet oder stark verschmutzt. Ist das nun ein Verfolger oder wieder mal nur ein Produkt seiner Fantasie? Soll er anhalten und ihn überprüfen? Die Kohleaugen der Petrowa kreuzen sich mit Mannis Blick im Rückspiegel. Steif und sehr aufrecht thront die Rechtsmedizinerin auf der Rückbank des GTI, ihreabsurde Pelzmütze noch immer auf dem Kopf. Irgendwas ist mit ihr, irgendwas strahlt sie aus, das Manni nicht einordnen kann. Er zwinkert ihr zu, um sie aufzumuntern. Ohne eine Miene zu
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