Nacht ohne Schatten
lautete die offizielle Diagnose. Den Schienbeinkopf hatten sie, so gut es ging, zusammengeflickt, die Gelenkflächen wieder gerichtet und geglättet, was jedoch nicht vollständig gelang, obwohl sie mit Knochenmark aus Theas Becken kitteten.
Besser geht es leider nicht, hatten die Ãrzte schlieÃlich erklärt. Sie werden immer Schmerzen haben, besonders am Morgen oder nach längerer Bewegungslosigkeit, es kann auch eine gewisse Wetterfühligkeit eintreten und leider durch den erhöhten Abrieb der Knorpel auch frühzeitiger GelenkverschleiÃ. Wir werden deshalb vermutlich immer mal wieder nachoperieren müssen, die Menisken glätten, um die Schmerzen in einem erträglichen Maà zu halten. Erträglich! AuÃer sich vor Wut hatte Thea dieser Prognose gelauscht. Dann setzen Sie mir halt direkt ein künstliches Kniegelenk ein, hatte sie geschrien. Doch das verweigerten die Ãrzte. Sie sind jetzt fünfundzwanzig Jahre alt, Frau Markus. Ein künstliches Kniegelenk hält zehn, mit Glück vielleicht zwanzig Jahre lang. Ein Wechsel wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Es bliebe dann nur noch die Amputation.
Thea starrt in den Spiegel. Das Weià schimmert am Haaransatz schon wieder unter der schwarzen Farbe durch, sie hat ihr natürliches Dunkelbraun früh verloren. Die KrähenfüÃe sind seit dem Brand tiefer geworden, neue Linien sind hinzugekommen, auf der Stirn, in den Mundwinkeln. Sorgenfalten, was für ein hässliches Wort. Vielleicht sollte sie wirklich auf ihre Frauenärztin hören und sich von der irrationalen Angst lösen, ohne ihre Gebärmutter sei sie keine vollwertige Frau. Und wenn sie dann schon mal wieder im Krankenhaus ist, kann sie sich gleich noch das Knie ersetzen lassen. Thea lehnt sich an die Wand, die Hände fest auf den Bauch gepresst. Einundfünfzig, du bist einundfünfzig, Thea, wie lange willst du noch leben? Zehn, zwanzig, dreiÃig Jahre? Und vor allen Dingen,wie willst du leben? Ja, es kann schiefgehen, dich in den letzten Jahren in den Rollstuhl zwingen. Doch vielleicht wäre es das wert, für eine Periode der Schaffenskraft, ohne Blut, ohne Schmerz?
Es klingelt. Nachdrücklich, fordernd, schrill. Thea schleppt sich zur Gegensprechanlage. Die Kommissarin Krieger verlangt ein weiteres Gespräch, sitzt nur Sekunden später in Theas Küche. Sie ist auÃer Atem, wirkt gehetzt, fixiert Thea mit ihren schönen granitgrau-blauen Augen.
»Es gab Streit in Nadas Atelier. Lautstarken Streit. Handgreiflichkeiten. Ich will wissen, mit wem.«
»Ich weià es nicht.« Thea setzt sich der Kommissarin gegenüber, versucht ihrem durchdringenden Blick standzuhalten. »Wirklich nicht.«
»Paul. Paul Klett.«
»Nein!«
Die Kommissarin blättert in ihrem in schwarzes Leder gebundenen Notizbuch, so heftig, dass einige Seiten einreiÃen. »âºSie hat mich gepackt, ich bin ihr verfallenâ¹, hat Paul Klett über sein Verhältnis zu Nada ausgesagt. In letzter Zeit war ich nicht mehr so angesagt bei ihr.â¹Â« Die Kommissarin rammt einen Füller als Lesezeichen zwischen die Seiten, schleudert das Notizbuch auf den Tisch. »Eifersucht ist ein starkes Motiv, Frau Markus.«
»Es war nicht Paul, ich hätte doch seine Stimme erkannt.«
»Sind Sie sicher?«
Ja. Nein. Ja. Das Krachen von Möbeln. Verzerrte Stimmen.
»Paul ist kein gewalttätiger Mensch.«
»Sie wissen also nicht, ob er derjenige war, der mit Nada gestritten und sie wohl auch geschlagen hat.« Die Kommissarin wirft einen hastigen Blick auf ihre Armbanduhr. Ihre nervöse Energie beginnt sich auf Thea zu übertragen.
»Paul ist nicht gewalttätig. Und niemals würde er die Kunstfabrik gefährden. Die Ateliergemeinschaft ist sein Baby, er lebt dafür.«
Die Kommissarin verzieht das Gesicht, als hätte sie Schmerzen.
»Der heftigste Streit fand am Abend des 4 . Januar statt. Zwei Tage vor dem Mord an Wolfgang Berger.«
War es so? Thea hat noch nie gern Kalender geführt, und die letzten Tage waren chaotisch. Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch. »Möglich, ja.«
»Sie haben den Streit also mitbekommen.«
Thea nickt.
»Haben Sie Nada an diesem Abend noch gesehen?«
»Nein. Ich bin bald danach heimgefahren. Etwa eine halbe Stunde später.«
»Sie sind also einfach gegangen. Haben Sie sich nicht um Nada gesorgt?«
»Der
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