Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
ab, öffnet Schubladen und Schränke. Nichts scheint zu fehlen, alles ist an seinem Platz. Und doch war jemand hier, sie täuscht sich nicht. Jemand, der nicht in freundlicher Absicht kam.
    Wann? Heute Nacht, denn wie immer ist Ekaterina eine derErsten im Institut, und der Pförtner weiß nichts von fremdem Besuch. Ekaterina lehnt sich an die Schreibtischkante. Sie hat kaum geschlafen in dieser Nacht, konnte die Bilder und Stimmen nicht unter Kontrolle bringen. Bilder vom Straßenstrich, von Ines, vor allem aber von dem Joik auf dem Friedhof, vom Raben, vom Fuchs. Auch Maiglöckchenbadeschaum und Eiscreme vermochten Ekaterinas überreizten Geist nicht zu besänftigen. Stunde um Stunde hat sie sich im Bett hin- und hergewälzt, den schnurrenden Tjuollda neben sich. Es war, als wäre auch ihre Urgroßmutter mit im Schlafzimmer, deren von Wind, Kälte und Unbeugsamkeit gegerbtes Gesicht endlich zu lächeln schien, weil Ekaterina ihre Weigerung, das Familienerbe fortzuführen, aufgegeben hat.
    Doch Ekaterina selbst ist nicht zum Lächeln zumute. Die Präsenz ihrer Urgroßmutter hat das Wissen um ihr furchtbares Ende zurückgebracht. Jemand hat sie verraten, Katjuschka, hat Ekaterinas Großmutter ihr erklärt. Die Bolschewiki konnten keine fremde Macht ertragen, selbst dann nicht, wenn eine alte Frau sie im Verborgenen ausübte, mitten im Eis. Sie kamen vor Tagesbeginn, zerrten deine Urgroßmutter aus der Kate und in den Hubschrauber, stießen sie in den Himmel. Das haben sie mit vielen, die Schamanen waren, gemacht. Sie lachten sie aus dabei, forderten sie auf zu fliegen. Doch nur der Geist einer Schamanin kann fliegen, weit über die Erde hinaus, bis zu den Sternen, in fremde Welten. Und er braucht die Trommel dazu, den Mantel, die alten, heiligen Rituale und die Hilfe der Schutzgeister.
    Du darfst keine Angst haben, Katjuschka. Der Gedanke an die Großmutter hat etwas Tröstliches, und sie hat recht. Ekaterina setzt sich an ihren Schreibtisch, wählt Judith Kriegers Nummer. Sie wird der Kommissarin Einblick in die Kartei geben, ihr von Ines erzählen. Das hätte sie schon viel früher tun sollen. Doch Judith Krieger meldet sich nicht, und dann steht auf einmal Oberarzt Müller in Ekaterinas Büro.
    Â»Kommst du, wir müssen was für unsere Quote tun.«
    Die Quote ist eine alte Wunde der Kölner Rechtsmedizin, weil sie es im Gegensatz zu den Instituten anderer Großstädte eine Weile lang gerade mal auf hundert Obduktionen im Jahr brachten. Friedliches, glückliches Köln, hatten die Kollegen gespottet und in Wirklichkeit Schlamperei unterstellt. Die neue Staatsanwaltschaft hat das geändert, jetzt sind sie bei 450 Sektionen im Jahr. Zum Glück, denkt Ekaterina, als sie im Waschraum in ihre grüne Arbeitskleidung steigt, zum Glück, deshalb bin ich schließlich hier, das ist mein Beruf.
    Sie mustert sich im Spiegel, sieht sich in die schmalen, dunklen Augen, die sie so lange als Makel empfand. Sie streicht durch ihr widerspenstiges, schwarzes Haar, dass die kirschroten Strähnchen leuchten. Hellbeigen Lidschatten hat sie heute gewählt, passend zu ihrem Angorapullover, und dunkelroten Lippenstift. Sie denkt an ihre Urgroßmutter, die sich niemals schminkte, es sei denn für ihre Rituale. Eine Sami-Schamanin, der die Dorfbewohner nicht halfen, als Stalins Schergen kamen, obwohl sie ihnen so lange Ratgeberin und Heilerin gewesen war. Sie denkt an die toten Mädchen von Nischnij Tagil, an Swetlana und an die zahnlose Irina. Sie fragt sich, ob sie auch einmal etwas aus sich machen wollten, wie die Frauen aus Ekaterinas sowjetischer Kindheit, die so hart arbeiteten wie die Männer und sich dabei nach Make-up und schönen Kleidern sehnten, nach Komplimenten und Liebe. Ekaterina hat immer geglaubt, diese Sehnsucht sei eine Rebellion gegen die staatlich verordnete Gleichberechtigung, ein Ausdruck der weiblichen Identität. Doch vielleicht war das falsch, vielleicht hat sie sich geirrt, wollte einfach nicht sehen, dass diese Sehnsucht Frauen verletzlich macht, zu leichter Beute. Vor allem in einem Land, in dessen Geschichte blindwütige Unterdrückung dominiert.
    * * *
    Â»Dienstausweis. Dienstwaffe.« Axel Millstätt streckt die Hand aus. Noch nie hat Manni den KK-11-Chef so wütend gesehen.Judith Krieger ist aufgesprungen. Sie wird rot, dann sehr blass, sogar ihre Sommersprossen scheinen rapide an Farbe zu

Weitere Kostenlose Bücher