Nacht ohne Schatten
sozial, allerdings bei einer Gala für die Aids-Hilfe. Dann sieht sie es. Das eine kleine Detail, auf das sie gehofft hat. Judith springt auf, rafft die Artikel zusammen, drückt dem verblüfften Gero Sanders 30 Euro in die Hand.
»Können Sie die Rechnung bezahlen und mit dem Taxi zurückfahren? Ich ruf Sie wieder an.«
Sie wartet seine Antwort nicht ab, hastet aus dem Café, bahnt sich einen Weg zurück zu ihrem Auto. Sie hatte recht, sie hat es gewusst, Popolow ist nicht der Täter. Sie könnte Millstätt anrufen, Manni, den Anfänger. Doch erst will sie ganz sicher sein.
* * *
Unruhe. Sobald Ekaterina ihr Arbeitszimmer betritt, ist sie wieder da, stärker noch als am Morgen. Nein, nicht Unruhe. Besorgnis. Angst. Zwei ungewöhnlich langwierige Obduktionen liegen hinter ihr, dann noch ein Gerichtstermin, zu dem sie Oberarzt Müller auf seine ausdrückliche Bitte hin begleitet hat, und zwischendurch Smalltalk bei einer Portion Schlabberlasagne inmitten von Müllers Chaos. Schritt für Schritt tappt Ekaterina durch ihr Büro. Es gibt überhaupt keinen Zweifel: Jemand war hier. Ines! Mit zwei Schritten ist Ekaterina bei der Hängeregistratur. Warum hat sie das am Morgen nicht geprüft? Sie zerrt den obersten Schuber heraus, blättert durch die Mappen. Erst sucht sie unter I, wie Ines, dann unter A, wie anonym, dann immer hektischer durch die gesamte Kartei. Alles ist ordentlich, wirkt unberührt. Nur Inesâ Mappe ist nicht mehr da, auch nicht auf dem Schreibtisch, in den Ablagekörbchen oder irgendwo sonst in Ekaterinas Büro. Es ist, als ob es sie niemals gegeben hätte.
Was soll sie tun? Ekaterina beginnt, die Telefonnummer der Kommissarin Judith Krieger zu wählen, legt sofort wieder auf, weil ihr auf einmal bewusst wird, dass jemand, der nachts in ihr Büro eindringt, sehr wohl auch in ihre Wohnung gelangen kann. Angst treibt Ekaterina vorwärts, Angst um Tjuollda, vor den Schemen von Männern, die einer schreienden Katze den Hals umdrehen. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht, betet sie im Rhythmus ihrer aufs Pflaster trommelnden Stiefelabsätze. Ihre Zehen schmerzen, ihre Knie stechen, sie merkt es kaum. Heim, nur heim will sie, nicht am Kanal entlang, sondern über die StraÃen, deren schwarze Pfützen Ekaterinas Schritte spiegeln.
Endlich erreicht sie ihr Mietshaus, endlich steht sie vor ihrer Wohnungstür. Sie wirkt unversehrt, ist aber nicht abgeschlossen. Ekaterina stöÃt sie auf, macht zwei Schritte in ihren Flur, drückt die Wohnungstür sofort wieder hinter sich zu, um zu vermeiden, dass Tjuollda entwischt.
Sie schaltet das Flurlicht an und ruft nach dem Kater. Stille ist die Antwort. Totenstille.
»Tjuollda?«
Keine Antwort, keine Bewegung. Kein Miau. Niemand ist im Flur, niemand ist im Wohnzimmer, auch die Küche ist leer. Ekaterina erreicht das Bad. Etwas knirscht unter ihren FüÃen, sie erstarrt. Katzenstreu, jemand hat Tjuolldas Katzenklo umgetreten und den Sack mit der frischen Streu auf den Boden geleert.
»Tjuollda!« Ein Angstschrei, kein Lockruf. Ekaterina stolpert zurück auf den Flur, dann ins Schlafzimmer, beginnt wahllosSchubladen und Schränke aufzureiÃen und auf dem Bauch liegend unter ihre Möbel zu spähen. Wo ist der Kater, was hat man ihm angetan? Sie weint jetzt, heiÃe, wütende, verzweifelte Tränen, weil es nicht aufhört, weil sie nicht entkommen kann, sosehr sie es auch versucht.
Später, viel später, sieht sie den Kater. Ganz flach auf dem Boden, in der hintersten Ecke unter dem Wohnzimmerschrank. Lebt er noch? Ja, zwei gelbe, runde Augen starren Ekaterina an. Sie liegt auf dem Teppich, lockt ihn, schmeichelt. Geduckt, immer noch wie auf den Boden gepresst, schleicht er schlieÃlich auf sie zu. Er ist verängstigt, scheint aber unverletzt. Sie streichelt ihn vorsichtig, spricht auf ihn ein, während sie nach ihrem Handy tastet.
Die Kommissarin Judith Krieger klingt atemlos, so atemlos, wie Ekaterina sich fühlt.
»Tjuollda, jemand war in meiner Wohnung, Ines â¦Â« Sie schafft es nicht, klar zu berichten, stammelt nur.
»Was ist los, Ekaterina, was ist passiert? Warte kurz.« Ekaterina hört Musik, die leiser gedreht wird, das verebbende Surren eines Automotors, dann wieder Judith Kriegers Stimme, ein bisschen heiser, aber sehr professionell, sicher hat sie auf diese Weise schon oft aufgelöste Verbrechensopfer
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